4. Aufgabe
A/ Lesen Sie den folgenden Text und beantworten Sie zuerst allein, dann in der Gruppe die
folgenden Leitfragen:
Was erfahren wir vom Journalisten und von der Frau (Ariane von Rosen), die von
ihm begleitet wird?
Zu welcher sozialen Schicht gehören die beiden?
Was haben Sie an dem Tag gemacht?
Was erwarten ältere Frauen von Begleitern? Welche Typen können Sie
unterscheiden?
Warum verhält sich der Journalist mit dieser Frau anders als mit anderen „Kundinnen“?
B / Wählen Sie einen
Absatz aus, und versuchen Sie, diesen ins Ungarische zu übersetzen. Vergleichen
Sie Ihren Text mit der ungarischen Übersetzung von Sándor Tatár (ebenfalls auf der CD zu lesen).
Norbert Kron
ARBEITSTAG EINES JOURNALISTEN
Als ich sie zum erstenmal sah, in der Lobby des Four Seasons,
hielt ich sie für eine der zahlreichen wohlhabenden Frauen, die von ihren
Männern verlassen worden waren und nun, in ihren sogenannten besten Jahren,
etwas Abwechslung in ihrer Einsamkeit suchten. Sie kam die Treppe herunter, in
einem braunen, schlank geschnittenen Hosenanzug, der auf den ersten Blick eine
gute, ja sportliche Figur verriet, und ging im schillernden Licht des
Kristallüsters, der die Eingangshalle bestimmte, mit einer seltsamen
melancholischen Direktheit auf mich zu, als sei sie traurig, mich gleich erkannt
zu haben. Das ist sie also, dachte ich bei mir, Ariane von Rosen, Wohnsitze in
Hamburg und Los Angeles, Hauptinteressen: Antiquitäten, Oper. Noch immer, auch
nachdem ich zum wiederholten Mal in dieser Situation war, spürte ich, wie mein
Herz beschleunigte – und dann, wie eine Beruhigung durch meinen ganzen Körper
floß, als ich ihr Gesicht sah und erkannte, daß sie keine unsympathische oder
gar abstoßende Frau war. Im Gegenteil: Ariane von Rosen war für ihr Alter
wirklich attraktiv. Ich machte ein, zwei Schritte auf sie zu, um das leise,
beiderseitige Schamgefühl zu zerstreuen, das im Moment der ersten Begegnung für
gewöhnlich mitschwang, aber sie ließ nicht einmal erkennen, daß sie nervös war,
und reichte mir mit einem leisen Lächeln ihre Hand.
„Sie sind Felix?“ Ihr Händedruck war sanft, aber fest, so daß
ich spürte, wie sich ein dicker Ring in meine Handflächen grub. „Mein Gott sind
Sie groß, Felix. Ich bin ja nur eine halbe Portion gegen Sie.“
Ich machte automatisch
eine kleine, instinktive Verbeugung, auch um einen Augenblick Zeit zu gewinnen.
Da war ein leichter, fast unmerklicher Akzent in ihrer Stimme, ein Akzent, den
ich nicht gleich einzuordnen vermochte.
„Ich gestehe, daß ich in der Agentur ein wenig abgerundet habe. Aber ich bin mir
sicher, Sie sind mir in vielen Dingen »über«.“
Ich blinzelte sie aus
den Augenwinkeln an, heilfroh, daß mir irgend etwas eingefallen war, was ihr
kokettes Understatement vom Tisch wischte.
„Oho. Ich habe mir einen Charmeur ausgesucht. Sehr schön. Sie wissen, wie Frauen
das mögen.“
Ich hörte wieder das
sanfte Nasalieren, das dem Französischen ähnlich klang, und dann ein Klacken,
wenn sie G- oder K-Laute aussprach, das ich eher dem Slawischen zurechnete. Ich
griff in die Tasche, die ich bei mir hatte, und zog das Geschenkpäckchen hervor,
das darin war.
„Dieses kleine Präsent darf ich Ihnen im Namen der Agentur überreichen. Wenn Sie
wollen, lade ich Sie zur Begrüßung auf ein Glas Champagner in der Bar ein.“
„Das ist ja ein Empfang, als ob man an Bord der MS Deutschland geht. Aber nein,
lassen Sie uns Heber gleich in See stechen. Dieses Beschwipstsein am Morgen hat
für mich immer so etwas Seekrankes. Das ist was für Leute, für die Kreuzfahrten
der
Lebensinhalt sind.“
Ich lächelte. Es war mir
recht, wenn sie gleich den Kurs vorgab. Zahlreiche Frauen, die ich in den
letzten Monaten kennengelernt hatte, waren verunsichert und verlegen gewesen und
warteten darauf, daß jemand für sie die Initiative ergriff. Die meisten nahmen
zum ersten Mal die Dienste eines Mannes wie mir in Anspruch. Sie aber schien
dergleichen bereits öfter gemacht zu haben oder ging generell mit kühler, leicht
resignierter Selbstironie an das Leben heran.
„Die »MS Berlin« steht zum Ablegen bereit vor der Tür“, sagte ich schmunzelnd
und nützte, während ich sie in die Drehtür vorangehen ließ, die Gelegenheit zu
dem Geständnis: „Die Autovermietung hatte uns den Mercedes versprochen, den Sie
gewünscht hatten – aber heute morgen, als ich hinkam, hatten sie nur einen
Chrysler in derselben Klasse. Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie.“
Sie streifte den Wagen
nur mit einem Nebenblick, ehe sie mich ansah.
„Alles hängt davon ab, wie der Fahrer fährt. Ich hoffe, Sie sind als Chauffeur
ebensogut wie als Charmeur.“
Ich hörte ihren leisen
nasalen Akzent, den ich nach wie vor nicht einordnen konnte, und öffnete ihr die
Wagentür:
„Ich kenne das Weltmeer Berlin wie meine Westentasche, Frau von Rosen.“
„Na, ausgezeichnet. Und tun Sie mir einen Gefallen, Felix: Sagen Sie Ariane zu
mir. Wenn Sie schon zwanzig Zentimeter größer sind als ich, möchte ich mir
wenigstens nicht auch noch zwanzig Jahre älter vorkommen als Sie.“
Sie war zwanzig Jahre älter als ich. Ich hatte es auf ihrer Karteikarte
gelesen, die ich am Vorabend von der Agentur gemailt bekommen hatte. Als wir die
Linden hinunterglitten, in Richtung Brandenburger Tor, betrachtete ich sie von
der Seite, während sie das Präsent auf ihrem Schoß öffnete, und ich mußte
zugeben: Sie wirkte wesentlich jünger, als sie war, höchstens 50. Sie hatte
champagnerblonde Haare, große schwarze Augen, deren Wimpern stark getuscht waren,
und in einem dezenten Rose geschminkte Lippen. Als sie das Geschenk der Agentur
auspackte (in dem sich wie immer ein kleiner Flacon in Bärenform mit einem
süßlichen Joop-Duft befand sowie einige sehr leckere Leysieffer-Pralines, von
denen ich gelegentlich welche angeboten bekommen hatte), umspielte ihre
Augenwinkel ein anrührendes, fast kindliches Lächeln und verteilte sich mit
einem sonderbaren Glanz über ihr gesamtes weiches Gesicht. Sie mußte einmal eine
äußerst attraktive Frau gewesen sein, eine Frau, die die Männer magnetisch
angezogen hatte, eine Frau, die – wann war das?, in den 70er Jahren? –
sicherlich als Modell hätte arbeiten können, auch wenn sie vielleicht ein paar
Zentimeter zu klein für diesen Beruf war. Sie mußte eine schöne Frau
gewesen sein, denn – sie war es für ihr Alter noch immer.
Im selben Moment, als ich mir dies sagte, spürte ich, wie eine Frage in mir
aufstieg, eine Frage, die ich mir auf die eine oder andere Weise bei jedem
meiner Aufträge gestellt hatte. Wie konnte es sein, daß solch eine Frau, eine
attraktive und wohlhabende Frau, mit solcher Rührung das obligatorische
Werbegeschenk einer Agentur auspackte, bei der sie sich einen Begleiter für
ihren Berlin-Besuch gebucht hatte? Auch wenn sie nicht mehr jung war – in jenem
Alter, in dem schöne Frauen sich vor Begleitern nicht retten konnten –: Wie war
es möglich, daß sie für einen Begleiter zahlen mußte? Konnte es sein, daß eine
Frau wie sie keine Freunde hatte? Daß sie einsam war?
Ich hatte mir diese und
ähnliche Fragen oft gestellt, seit ich diesen Job ausübte. Ich hatte diese
Fragen von jenem Moment an mit mir herumgetragen, als ich zum ersten Mal mit dem
Gedanken zu spielen begann, mich auf diese Weise über Wasser zu halten. Es waren
sorgenvolle, beunruhigende Fragen, die alle auf zwei grundlegende Punkte
zurückführten: Was waren dies für Frauen, die die Dienste eines solchen
Begleiters benötigten? Und: Gab es überhaupt Frauen, die solche Dienste in
Anspruch nahmen?
Während bei Männern, ob älteren oder jüngeren, das Interesse an einer käuflichen
Begleitung schlagartig klar war – während klar war, daß es bei Männern eine
große, eindeutige Nachfrage nach einem nie ausreichenden Angebot gab –, dachte
ich mir, daß diese Nachfrage, wenn überhaupt, auf weiblicher Seite nur bei alten,
einsamen, verzweifelten oder häßlichen Frauen bestehen konnte: bei Frauen, mit
denen ich von vornherein nichts zu tun haben wollte. Und kaum daß mir das
klargeworden war, begann ich, wenn ich durch die Stadt lief oder in einem
Restaurant saß, geradezu manisch nach Frauen Ausschau zu halten, auf die diese
Charakterisierung zutraf. Frauen mit Oberlippenbärten, mit siebzig Kilo
Übergewicht, mit dem Mienenspiel von Hysterie und Depression. Es war ein Spiel,
das ich mit boshafter Ironie spielte, ein Spiel, das einen Schuß Masochismus
besaß und das ich bis in alle Konsequenzen fortsetzte. Ich fragte mich, wie es
wohl sein würde, mit solchen Frauen Tag für Tag zu verbringen. Ich fragte mich,
ob ich mir vorstellen konnte, mit ihnen für ein, zwei Wochen in Urlaub zu fahren.
Und natürlich fragte ich mich, ob ich in der Lage wäre, mit ihnen ins Bett zu
gehen. Vor allem die letzte Frage war es, die mich das Gedankenspiel immer von
neuem spielen ließ, der Nervenkitzel des Abscheus, der in der Vorstellung des
Unvorstellbaren bestand und mich geradezu süchtig danach machte, immer weiter
Ausschau zu halten. Aber selbst wenn ich den letzten Schritt von vornherein
ausschloß – wenn ich es kategorisch von mir wies, mit einer von ihnen zu
schlafen –: Ich wußte, daß mir die bloße Begegnung mit ihnen vor Augen führen
würde, wie tief ich gesunken war: daß ich mich prostituieren mußte, um zu
überleben.
Und dann tat ich es dennoch. Ich bewarb mich bei der Agentur. Nicht nur, daß ich
tatsächlich keinen finanziellen Ausweg mehr sah (es sei denn, ich wollte noch
tiefer sinken und in einem beschissenen Call-Center, auf Anweisung eines
beschissenen braungebrannten Trainers, beschissene Auskünfte nach der Art geben:
„Guten Tag, mein Name ist Felix Herzberg, was kann ich für Sie tun?“). Nein, ich
wollte es einfach wissen. Ich konnte einfach nicht mehr anders, ich mußte es
herausfinden. Ich mußte wissen, was dies für Frauen waren – und wie es mir
ergehen würde, ihren Lakaien, Chauffeur, Privatsekretär zu spielen. Ich sprang
also einfach ins kalte Wasser, bewarb mich und bekam den Job. Das war vor etwa
drei Monaten gewesen. Seither war ich noch keine zehn Mal von einer dieser
Frauen um die 60 gebucht worden, und das Überraschende war, wie mir jetzt bewußt
wurde: Vom Tag meines ersten Auftrags an, von jenem Tag an, als ich genau wie
heute mit klopfendem Herzen in einer Hotellobby auf eine Kundin gewartet hatte,
hatten sich mir meine angstvollen Fragen immer sehr schnell und einfach
beantwortet. Auf die eine oder andere Weise hatte sich immer sofort klar gezeigt, warum
jede dieser Frauen sich einen – obendrein jüngeren – Mann als Begleiter mietete.
Und zwar nicht, weil auch nur eine dieser Frauen von solch abschreckender
Häßlichkeit oder sozialer Verlorenheit gewesen wäre, wie ich es mir in meinen
ketzerischen Befürchtungen ausgemalt hatte. Auch wenn es sich, natürlich, nie um
junge, attraktive Frauen handelte, wurde ich dennoch immer positiv überrascht.
All diese Frauen legten großen Wert auf eine gepflegte Erscheinung, besaßen
überdurchschnittliche Bildung und waren über die Maßen freundlich. Und
gleichzeitig waren sie auf die eine oder andere Weise allein, hatten schon seit
Jahren keinen Lebenspartner oder waren aus anderem Grund darauf angewiesen, daß
ihnen jemand bei ihrem Aufenthalt in der fremden Stadt zur Seite stand. Sie
kamen zu einer Messe und wollten auf den anschließenden Empfang nicht allein
gehen. Sie waren nicht mehr gut zu Fuß und benötigten einen Chauffeur, der sie
nicht nur hinaus nach Sanssouci fuhr, sondern sie auch am Abend in ein Musical
begleitete. Oder sie kamen aus dem Ausland und genossen es schlicht und einfach,
eine Agentur zu engagieren, die ihnen nicht nur einen Wagen und Theaterkarten
besorgte, sondern obendrein jemanden, der sie mit Informationen aus erster Hand
über diese geschichtsbeladene, im Umbruch befindliche deutsche Hauptstadt
versorgte.
Während ich den Wagen
durch den vormittäglichen Verkehr Richtung Ku'damm lenkte und Ariane von Rosen
den Bärenflacon mit einem spöttischen Amüsement in den Händen hin- und herwandte,
wartete ich darauf, daß sich bei ihr der Grund offenbarte, weshalb sie sich
einen Begleiter für den heutigen Tag genommen hatte.
„Eine nett gemeinte Geste Ihrer Agentur“, sagte sie und schnupperte an ihrem
Handrücken, den sie zuvor bestäubt hatte. „Da habe ich schon ein Mitbringsel für
meine Freundin Irina, die hat ein Faible für solch duftenden Kitsch.“
„Und die hier –“, sie zeigte auf die Pralinen, die sie gerade auspackte. „Wissen
Sie was, die kriegen Sie, Felix. Ich esse solches Zeug nämlich gar nicht mehr.“
Ich bedankte mich schmunzelnd und wartete darauf, daß sie mir nähere Angaben
über ihre Wünsche machte. Am Abend stand ein Opernbesuch an, den sie
verständlicherweise lieber in Begleitung eines männlichen Kavaliers unternahm
als allein (es war ausgerechnet „Don Giovanni“), ansonsten aber waren die Pläne,
die sie für die nächsten Stunden ankündigte, eher unspektakulärer Natur. Ich
fuhr sie herum, ich brachte sie in die westlichen Einkaufsstraßen, wo sie an den
Schaufenstern vorbeilaufen wollte, ich ging mit ihr in die Feinkostabteilung des
KaDeWe, wo sie mich zum Kaffee einlud. Aber nicht nur, daß jeder Taxifahrer sie
auf diesen Strecken hätte ebensogut fahren können, sie blockte sogar meine
Vorstöße ab, ihr beiläufig etwas über die Geschichte der Stadt zu erzählen („Wußten
Sie, daß da drüben das Romanische Cafe war – wo alle Künstler in den zwanziger
Jahren hingegangen sind?“). Ihre sanften Themenwechsel führten uns regelmäßig
auf weniger tiefschürfende Pfade zurück:
„Ja, das berühmte Nachtleben der Künstler. Wer wäre in den wilden Zwanzigern
nicht gern dabeigewesen.“
„Das ist ja der Witz: Das Ganze ist eine Legende. Das berühmte »Nachtleben« war etwas für die
Touristen. Die Künstler trafen sich im Romanischen Cafe tagsüber.“
„Wie es immer ist: In der Rückschau erscheint alles bunter, aufregender.“
„Und wissen Sie, wo die Künstler zum Feiern hingefahren sind? Nach Paris.“
„Ich war vor einem Monat da. Man spürt die große Vergangenheit auf Schritt und
Tritt.“
„Nur daß das Pariser Nachtleben vermutlich auch bloß etwas für die Touristen war.
Während die Künstler tagsüber im Grand Guignol saßen – und zum Feiern woanders
hingefahren sind.“
„Zum Beispiel“, lachte sie, „nach New York? Ach Felix, halten Sie hier doch mal.
Ich würde gern da drüben einen Blick in den Laden werfen.“
Und das war es. Mittags kamen wir an einer Bank vorbei, die ab und zu
Kunstausstellungen veranstaltete, und weil das große Dali-Plakat von Rosens
Interesse erregte, bcschloß sie, in die Ausstellung zu gehen. Es war unmöglich,
in der Nähe einen Parkplatz zu finden, also stellte ich den Wagen auf ihren
Wunsch hin im Halteverbot ab („den Strafzettel, Felix, setzen Sie einfach auf
meine Rechnung“) und folgte ihr in den alten Jugendstilbau, dessen großer
Eingangssaal voll von jenen stereotyp überdrehten Szenerien war. Sie lief umher,
blieb vor den Bildern stehen, und alles, was sie sagte, waren Dinge wie: „Das
finde ich toll“, „was hat er denn damit gemeint?“, „etwas übertrieben, finde ich“
– wobei sie sich gelegentlich umwandte und über die Schulter zu mir aufblickte.
Einen Schritt hinter ihr stehend, sah ich, wie ihr Haar an ihrem Hals
hängenblieb und ihren Nacken freilegte. Auch hier war ihre Haut von wunderbarer,
bronzener Glätte. Von ihrem Schlüsselbein spannte sich ihr Halsmuskel mit einer
Geschmeidigkeit bis hinauf zu ihrem Ohr, wie er selbst einer Frau in den 30ern
zu Ruhm und Ehre gereicht hätte. Im nächsten Moment, kaum daß ich wieder über
die Jugendlichkeit dieser Frau verblüfft war, begriff ich, daß diese
ungewöhnliche Straffheit ihrer Haut zweifelsohne das Werk plastischer Chirurgie
sein mußte. Ja, auf einmal glaubte ich förmlich sehen zu können, wie die Haut
ihres Halses hinter ihre Ohren gespannt war, dorthin, wo der Haaransatz jede
Narbe verdeckte. Und dennoch, obwohl ich eine geradezu aggressive Abneigung
gegen derlei zwanghaften Jugendwahn hatte, empfand ich im selben Atemzug wieder,
wie attraktiv sie auf mich wirkte. Die meisten Frauen, die ich in den acht
Wochen seit Beginn dieser Tätigkeit begleitet hatte, waren wie sie Ende 50 oder
Anfang 60 gewesen; manche hatten sogar fast die 70 erreicht. Diese, die Älteren,
waren stets die einfacheren Fälle gewesen. Sie waren zufrieden, einen charmanten,
hilfreichen Chauffeur an ihrer Seite zu haben, der bei Sightseeingtouren oder
Theaterbesuchen kultivierte Konversation mit ihnen machte und sich obendrein
ihre Lebensgeschichte anhörte. Sie suchten, genau wie es mein Berufsbild vorsah,
nichts anderes als einen Ersatzsohn – der ihnen in der Realität nicht zur
Verfügung stand, weil sie keine eigenen Kinder hatten oder weil diese sich keine
Zeit für ihre verwitwete Mutter nahmen. In dieser Rolle, das wußte ich, war ich
der ideale Mann. Ich besaß die nötigen Tischmanieren, konnte mich auf jedes
Gesprächsthema einstellen und kannte mich in allen kulturhistorischen
Berlinfragen hervorragend aus.
Diese Qualitäten brachte ich natürlich auch bei den anderen zum Einsatz – doch
jedesmal erwies sich die Situation als schwieriger. Sie, die Hauptgruppe der um
die 60jährigen, schienen von vielschichtigeren Motiven geleitet. Vordergründig
hatten auch sie nichts anderes als einen privaten Reiseführer gebucht, der ihnen
in jeder praktischen Hinsicht zur Seite stand. Doch auf einer zweiten,
verborgenen Ebene – auf einer Ebene, die aus der Tiefe dazwischenfunkte und für
Komplikationen sorgte – schwang noch etwas anderes mit. Im Grunde, so war mein
Eindruck, ging es bei ihnen immer um Sex. Nein, nicht realer, körperlicher Sex
war es, worauf sie aus waren, sondern etwas Bedrängenderes, Intimeres,
Unangenehmeres: Erotik. Ob es nun eine letzte Aufwallung der weiblichen Biologie
war oder ein Aufbäumen des Geistes gegen den unbarmherzig näher rückenden Tod:
In allen Begegnungen hatte ich mich über kurz oder lang einer
Anlehnungssehnsucht gegenübergesehen, einem Wunsch, noch einmal umschmeichelt
und begehrt zu werden. Diesem Wunsch konnte ich aber auch mit allem Charme keine
Abhilfe schaffen – im Gegenteil: Ich fachte ihn damit nur stärker an. Das
erotische Sehnen, das nie explizit geäußert wurde, sammelte sich im verborgenen
an wie eine Wolke von Gas.
Im Gegensatz zu Männern gleichen Alters (denen, wie man aus der Beobachtung
prominenter Kulturvertreter wußte, die tragisch unverminderte Produktivität der
Hormone schamlos ins Gesicht geschrieben stand) wäre es ihnen – Frauen von Welt
– zu plump oder demütigend gewesen, sich wirklich einen Gigolo zu mieten. Sie
wünschten sich einen Unterhalter, Begleiter, Chauffeur, der sie am Ende so zu
verführen suchte, wie sie früher als junge Frauen verführt worden waren (was sie
damals, zu ihrem jetzigen Bedauern, viel zu oft abgelehnt hatten).
Wahrscheinlich hätten sie jeden solchen Versuch, den man tatsächlich unternommen
hätte, heute genauso empört zurückgewiesen. Aber weil dieser Versuch von
vornherein ausblieb – weil ich ihn erst gar nicht unternahm –, endete so mancher
kostspielige Tag für diese Frauen mit einer schwer erklärlichen Frustration, und
sie buchten mich nicht wieder.
„Lassen Sie uns etwas essen gehen“, sagte sie, als wir die Ausstellung verlassen
hatten. Es war früher Nachmittag, die Hälfte unseres gemeinsamen Tages war
bereits vorüber, und ich wartete darauf, daß bei ihr, Ariane von Rosen, der
verborgene Wunsch ihres Besuchs spürbar wurde, daß sich ein tieferes,
zweideutiges Sehnen in unser so unkompliziertes, geschäftsmäßiges Verhältnis
einschlich. Bisher hatte es den Anschein, daß sie hier in der Tat nichts anderes
vorhatte, als die Zeit totzuschlagen – und daß ich für diese Nichtstuerei das
Alibi abzugeben hatte. Ich schlug ihr vor, uns ein Restaurant am Savignyplatz zu
suchen, das nur fünf Gehminuten entfernt lag, und sie willigte tatsächlich
gleich ein, mit einem gleichgültigen, willenlosen Lächeln, in dem wieder ein
melancholischer Zug lag. Ich hatte das Gefühl, daß sich hinter diesem Lächeln
ein Geheimnis verbarg, ein Geheimnis, das nur darauf wartete, enthüllt zu
werden. Wir ließen den Wagen stehen (der nicht einmal einen Strafzettel bekommen
hatte), und als wir in eine der Ku'damm-Seitenstraßen einbogen, in denen sich
eine Galerie an die andere reihte, sagte sie:
„Ach, hier sind wir. Jetzt weiß ich wieder, wo wir sind.“
Ich vermied es, sie
anzusehen, und sagte scheinbar uninteressiert vor mich hin:
„Sie waren schon einmal hier?“
Es war, als hätte sie
meinen Satz nicht gehört. Sie ging neben mir weiter, während sie fortwährend auf
die andere Straßenseite hinübersah, auf der sich ein Antiquitätenladen befand,
und erst nach zehn, fünfzehn Schritten wandte sie den Kopf plötzlich zu mir, wie
von einer Eingebung erfaßt, und sagte:
„Sagen Sie, Felix – ist hier nicht gleich die Paris Bar? Ich war schon seit
Ewigkeiten nicht mehr da.“
Genau so war dieser Job: sich ganz auf die Bedürfnisse einer Kundin
einzustellen. Im Grunde konnte es mir völlig egal sein, ob sie hier schon einmal
gewesen war – und warum sie meine Dienste in Anspruch nahm. Im Grunde kam es für
mich nur auf eines an: daß sie zufrieden mit mir war. Sie zahlte, also war mir
ihr Wunsch Befehl. Wenn sie hier tatsächlich nur die Zeit totschlagen wollte –
und das in Begleitung –, dann konnte mir das nur recht sein. Einfacher war das
Geld nicht zu verdienen. Ich führte sie also zu dem Lokal, das gleich um die
Ecke lag, und nahm ihr den Übergangsmantel ab, den sie trug. Sie bestellte
Austern und forderte mich auf, es ihr gleichzutun. So verging eine gute Stunde,
in der wir über alle möglichen Belanglosigkeiten sprachen, die Geschichte der
Paris Bar, das Ost-West-Gefälle in der Stadt, das Berliner Wetter. Und ich
horchte dabei auf ihren Akzent, den ich nach wie vor nicht zu entschlüsseln
vermochte, und beobachtete ihre Mimik, fasziniert von der Doppeldeutigkeit, die
ihre chirurgisch nachgebesserte Schönheit für mich besaß. Ja, auch sie war nur
eine Frau, die gegen das Altern kämpfte, eine Frau, die unter den geltenden
Spielregeln darunter litt, nicht die ewig junge, schöne, begehrte Frau zu sein,
die sie einmal gewesen war, die es nicht akzeptieren konnte, daß das Leben sich
einem Ende zuneigte. Aber das Seltsame war, daß mich ebendieser Kampf, die
unausgesprochene Verzweiflung, die darin lag, zutiefst anrührte, daß sie diese
Frau auf eine irritierende Weise menschlich und schön machte. Wahrscheinlich gab
es nichts, was die Vergänglichkeit des Lebens auf tragischere Weise zeigte, als
der Verfall einer schönen Frau. Auch wenn ich aus ihren akzentuierten Worten
nicht einmal den leisesten Unterton sehnsüchtiger Anzüglichkeit herausgehört
hatte, fragte ich mich, ob jene Melancholie, die ich von Anfang an bei ihr
wahrgenommen hatte, nicht doch auf ein und demselben Wunsch beruhte. War jenes
Lächeln voller Selbstspott, das in ihre Mundwinkel eingezogen zu sein schien,
nicht Ausdruck der Vergeblichkeit, sich dem Unweigerlichen entgegenzustellen?
Eine schöne Frau, deren Schönheit verlorenging, konnte sich auch mit den
perfektesten Operationen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie sich nach einer
Zuneigung sehnte, die ihr kein plastischer Chirurg zuteil werden lassen konnte.
Wie sehr sie diese Sehnsucht auch hinter der Maskerade ihres Gesichts zu
verbergen suchte: Es gab nur eins, was den unheilbaren Wundschmerz für eine
Weile stillen konnte – das Begehren eines Mannes.
Natürlich hatte ich zigmal mit dem Gedanken gespielt, den Frauen tatsächlich
sexuelle Dienstleistungen anzubieten. Und ich hatte mich wohl auch bei jeder
Frau gefragt, ob es mir möglich wäre, ihr diesen professionellen Liebes- und
Lustdienst zu erweisen. In den drei Monaten, in denen ich diesen Job nun
ausübte, hatte es nur eine Situation gegeben, in der eine Kundin, während eines
abendlichen Barbesuchs, durch die Blume auszukundschaften suchte, ob sich mein
Begleit-Service auch noch bis auf das Hotelzimmer ausdehnen lasse – worauf ich
mich dumm stellte. Als die Frau mich schließlich unverblümt fragte, ob ich mir
nicht ein kleines Taschengeld dazuverdienen wolle – von dem niemand etwas
erfahren müsse –, lehnte ich mit der Begründung ab, daß es mir von der Agentur
strikt untersagt sei, irgendwelche zusätzlichen Zuwendungen von Kundinnen
anzunehmen (was eine glatte Lüge war), und daß ich diesen Job nicht aufs Spiel
setzen konnte (was voll und ganz der Wahrheit entsprach). In Wirklichkeit hatte
mich jedoch nur eines an dem Handel gehindert: die Befürchtung, sexuell zu
versagen. Auch diese Frau war keine abstoßende Person, sie war jugendlich
gekleidet, trug eher Konfektionsgröße 38 als 46. Aber auch sie war 60, ihre Haut
war müde geworden wie der Blick ihrer gutmütigen Augen, die mich bei der
Unterbreitung des unmoralischen Angebots anblitzten. Es hätte mich nicht
angeekelt, sie zu berühren, aber es gab auch keinen Impuls, keinen sexuellen
Reiz, der von ihr ausging, und ich konnte leider auch nicht behaupten, daß die
Frivolität der Idee, die Heimlichkeit der Prostitution, mich erotisierte. Ich
hätte es darauf ankommen lassen müssen, aber ich wußte einfach nicht, ob ich auf
Befehl, von einem Moment auf den anderen, zu der Dienstleistung in der Lage sein
würde, zu der ich mich verpflichten würde. Kurz: Ich hatte Angst. Ich hatte
Angst vor der peinlichen Situation, wenn ich sie dort in ihrem Hotelzimmer
küssen würde, wenn ich meine Hände über ihren verwelkenden Leib gleiten ließe
und sie durch meine Berührungen nach und nach in jenen schwebenden Zustand der
Lust versetzen würde (ein Vermögen, an dem ich nicht im geringsten zweifelte) –
und wenn bei mir, fernab solch hormoneller Höhenflüge, dabei nichts ins Schweben
geriete und ich mich, vom Gesetz einer überirdischen Schwerkraft beherrscht, auf
dem Boden der Tatsachen wiederfände, woran auch kein gutes Zureden oder
wohlwollendes Eingreifen etwas ändern konnte. Das war es, was mich damals nein
sagen ließ: die Angst, daß ich nicht nur mich in Verlegenheit bringen könnte, sondern vor
allem sie. Denn was konnten alle Worte, die die erotische Ausstrahlung
einer alternden Frau beschworen, gegen das schlagkräftige Urteil ausrichten, das
durch das augenfällige Desinteresse der männlichen Biologie gefällt wurde?
So hatte ich also beschlossen, die Unklarheit dieser Begegnungen weiterhin der
Realität vorzuziehen und die Frauen lieber mit einem großen, ausschweifenden
Raum der Fantasie zurückzulassen, der sich hinter meiner grundsätzlichen
Verweigerung auftat. Manchmal argwöhnte ich, daß diese Frauen die Frustration,
die das Tabu tagsüber verursachte, nachts in den Betten der Hotels einsam (aber
dafür mit Erfolgsgarantie) abreagierten. Und nicht ausgeschlossen, daß ich, der
zuvorkommende, gebildete und, ja, durchaus gutaussehende Begleiter Felix, die
männliche Hauptrolle in diesen erotischen Kurzfilmen spielte – so wie seit
meiner Pubertät unzählige Frauen, die ich auf der Straße gesehen hatte, von
meinen Fantasien für denselben guten Zweck mißbraucht worden waren. Wenn es mir
nun also genauso ging, wenn mich diese Frauen als Lustobjekt benutzten, so
störte mich das nicht weiter – ja, es war sogar schmeichelnd. Besser ich blieb
den Frauen als Onaniervorlage im Gedächtnis denn als jener reale Mann, der ihnen
das Vergehen der Zeit mit der naturwissenschaftlichen Beweiskraft eines
Foucaultschen Pendels vor Augen geführt hatte.
„Was machen Sie sonst in Ihrem Leben, Felix“, fragte sie mich plötzlich, „Sie
begleiten Frauen wie mich doch sicher nur in Ihrer Freizeit?“
Wir saßen bereits beim
Espresso, zum Gehen bereit, und ich war so überrumpelt von ihrer Direktheit, daß
ich - ganz gegen meine Überzeugung, mein übriges Leben strikt von diesem Job
getrennt zu halten - antwortete:
„Ich bin Journalist. Ich – schreibe für verschiedene Zeitungen.“
„Oh“, sagte sie, „Journalist. Wie interessant! Und worüber schreiben Sie?“
„Nun, Kultur in erster Linie. Kunst, Wissenschaft, Philosophie.“
Sie schien einen Moment
nachzudenken, als müsse sie das erst verstehen.
„Kultur. Aha. Aber das ist gut. Und für welche Zeitungen?“
Ihr Akzent untermalte
diese Frage mit einem Ton, der mehr als neugierig war, aus dem Ernst sprach. Ich
nannte die Blätter, bei denen ich meine unregelmäßigen Beiträge losschlug, seit
die Berliner Redaktion der Zeitung, bei der ich eine Festanstellung gehabt hatte,
aufgelöst worden war.
„Aber dann habe ich vielleicht kürzlich im Flugzeug etwas von Ihnen gelesen.
Haben Sie vielleicht den Artikel über Luciano Pavarotti geschrieben – in der
Sonntagsbeilage?“
„O nein, leider“, ich schlug die Augen nieder, lächelnd. „Ich bin kein
Musik-Spezialist. Ich mag die Oper – aber ich schreibe eher über generelle
kulturelle Themen.“
„Ah. Nun, das ist wirklich toll. Ich sitze hier also mit einem Mann der Kultur.“
Wieder glaubte ich um ihre Mundwinkel – jene straffen, zu einem Lächeln
geschnürten Mundwinkel – einen Schatten zu erkennen. Sie hob den Kopf, sah zu
den Bildern auf, die ringsherum an den Wänden hingen, und schien
gedankenverloren:
„Ich sage Ihnen, Felix: Wenn Sie sich in Kultur auskennen – und schreiben können
Sie ja offensichtlich –, dann sollten Sie Drehbücher schreiben. Gute Drehbücher,
die werden heute gesucht wie Sand am Meer.“
Ich hatte keine Ahnung,
was sie auf diesen Zusammenhang gebracht hatte, dankte ihr aber dennoch mit
einem Nicken. Dann bat sie mich, die Rechnung zu bestellen. (Es war üblich, daß
ich das pro forma übernahm.) Die Rechnung belief sich auf 136 Euro, und weil
mir vier Euro Trinkgeld zu wenig erschienen, legte ich einen weiteren
Fünfeuroschein auf das kleine Silberschälchen, wobei ich in ihrem Gesicht nach
einem Zeichen der Zustimmung suchte. Doch der Blick, den ich auffing, war von
einer seltsamen Undeutbarkeit, ein Blick, dem ich nicht entnehmen konnte, ob er
Mißbilligung oder Zustimmung ausdrückte. Sie sah mich an, mit einem fernen, in
sich gekehrten und doch musternden Blick. Ich holte die Mäntel, und noch als wir
auf die Straße traten, wartete ich darauf, daß sie etwas sagte. Tatsächlich
blieb sie, als wir ein paar Schritte gegangen waren, plötzlich stehen, von einem
Entschluß durchdrungen, und sagte:
„Felix – ich habe mir überlegt: Könnten Sie den Wagen holen? Und vielleicht ein
paar Blumen besorgen? Hier, ich gebe Ihnen einen Hunderter – lassen Sie einen
schönen großen Strauß binden, irgendwas Frühlingshaftes, so für 50 Euro – und
dann holen Sie mich hier ab – in einer halben Stunde. Ich gehe mir da drüben in
der Zwischenzeit ein bißchen die Möbel ansehen.“
Nun gut, ich beschloß
die Sache abzuhaken. Sie wollte gegenüber in den großen Department-Store für
Designer-Möbel gehen, also brauchte ich mir über das Trinkgeld keinen Kopf mehr
zu machen. Trotzdem hatte ich, als ich zum Wagen zurückging, immer wieder ihren
Blick vor Augen. Was dachte sie über mich? Was erwartete sie von mir? So wenig
man wußte, wie einsam diese Frauen wirklich waren, so wenig konnte man
durchschauen, woher sie ihre finanziellen Mittel hatten. Manche dieser Frauen
nahmen es in Gelddingen übergenau, obwohl sie alles andere als mittellos sein
konnten. Dafür war das Honorar, das die Agentur ihnen für eine Tagesbegleitung
abknöpfte, zu hoch. Die Agentur vermittelte alles, was ein erlebnis- oder
erholungshungriger Mensch sich nur wünschen konnte, sie besorgte Theaterkarten,
organisierte Reitstunden, ermöglichte Golf- und Wellnesswochenenden in der Mark
Brandenburg, so daß sich die Rechnung für einen Tag auf über tausend Euro
summieren konnte. Ich selbst, das Humankapital, nahm dabei den mit Abstand
geringsten Posten ein. Und dennoch: Auch wenn ich für meine bescheidenen Dienste
nur einen Bruchteil der Gesamtsumme bekam, war ich damit besser bezahlt als bei
jedem journalistischen Auftrag, den ich seit der Auflösung der Redaktion
bekommen hatte. Ein satter 200-Zeilen-Artikel, in den ich je nach Thema zwei bis
vier Tage investierte, brachte mir nicht so viel ein, wie wenn ich hier neun
Stunden lang den netten, unkomplizierten, charmanten Ersatzsohn spielte, der
beim Sightseeing gebildete Konversation machte oder auf Kommando den Wagen holte.
Und deshalb lag mir soviel daran, daß die Damen mit mir zufrieden waren, daß sie
sich, bei der Abrechnung mit der Agentur, positiv über mich äußerten. Die
Auftragslage war äußerst schleppend, und ich konnte mir nicht leisten, auch noch
diesen Job zu verlieren.
Und Ariane von Rosen?
War sie zufrieden mit mir? Hatte ich mich richtig verhalten, als ich die
Rechnung bezahlte? Konnte es sein, daß sie wirklich so anspruchslos war, wie es
schien? Oder wartete sie darauf, daß ich als ihr Begleiter die Initiative
ergriff, daß ich auf sie zuzugehen begann? War ihre schöne, traurige
Gesichtsmaske nicht auch nur der Abdruck des immergleichen Wunsches, das Negativ
einer Sehnsucht, die für sie unaussprechbar war?
Als ich in die Seitenstraße des Ku'damms einbog, entdeckte ich den Wagen sofort.
Oder besser: seine Rücklichter. Er schwebte, aufgebockt auf einem gelben Koloß,
die letzten Meter der Straßenflucht hinunter und verschwand an ihrem Ende in der
angrenzenden Hauptstraße. Ich schrie noch, versuchte dem Abschleppwagen
hinterherzurennen, aber dieser hatte seine Fahrt in der Ferne mit
unerschütterlicher Elefantenruhe fortgesetzt. Verdammt. Auch wenn ich wirklich
keine Schuld an der Sache hatte – ich selbst hätte den Wagen nie ins Halteverbot
gestellt –, konnte ich nur hoffen, daß ich am Ende nicht noch die Strafe zahlen
mußte. Ich rief sofort die Polizei an, aber der Beamte erklärte mir in
gelangweiltem, breitem Berlinerisch, daß er mir erst in einer halben Stunde
genaue Auskunft über den Verbleib des Wagens geben könne. Da ich keine
Handy-Nummer von Ariane von Rosen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als
zurückzugehen. Genauer gesagt: Ich rannte, ich hetzte zurück. Im Laufen
überlegte ich, was ich mit den Blumen machen sollte. Sollte ich wenigstens diese
gleich kaufen? Oder ihr schnellstmöglich Bescheid geben? Doch als ich in die
Straße einbog, die ich zuvor mit ihr auf dem Weg zur Paris Bar gegangen war, war
es für derlei Erwägungen bereits zu spät. Ich rannte förmlich in sie hinein. Ich
kam um die Ecke gebogen, wo der Antiquitätenladen lag, und die Frau, die dort
vor der Auslage mit einem Mann stand und diskutierte, war niemand anders als –
Ariane von Rosen.
„Felix, was –“, sie war bleich vor Schreck – und im nächsten Moment von roten
Flecken übersät, die sich auf ihrem Gesicht zeigten: „Was machen Sie denn schon
hier?“
Ich brauchte eine Weile,
um zu reagieren. Ich spürte, wie auch mir das Blut in den Kopf schoß. Offenbar
hatte ich sie ertappt. Sie hatte mich weggeschickt, damit ich den Wagen und die
Blumen holte, und war in der Zwischenzeit noch einmal zu dem Laden zurückgekehrt,
an dem wir zuvor vorbeigegangen waren. Ich versuchte die Peinlichkeit der
Situation einfach zu übergehen und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Aber
vor Atemnot gelang es mir kaum, einen vernünftigen Satz hinter den anderen zu
bringen.
„Ich verstehe nicht«, sagte sie, »haben wir uns etwa mißverstanden?“
Keuchend schilderte ich
ihr schließlich, was passiert war.
„O nein“, rief sie dann und lachte laut auf, „o nein. Das ist ja eine
bescheuerte Sache.“ Sie begann jetzt richtig herzhaft zu lachen, wobei sie den
Mann, der offensichtlich der Eigentümer des Ladens war, immer wieder anblickte –
als solle er bestätigen, daß ihr Hiersein reiner Zufall war. „Aber um so
besser“, sagte sie, als das Lachen langsam abzuebben begann und sie einen Moment
nachgedacht hatte: „Dann ändern wir eben die Pläne. Ich nehme mir jetzt ein
Taxi, und Sie kümmern sich um den Wagen. Und dann kommen Sie mich im Grunewald
abholen.“ Sie machte eine entschuldigende Handbewegung zu dem Mann und faßte
mich am Arm, um mich einige Schritte beiseite zu nehmen. Nach dieser
vertraulichen Geste wirkte ihr Akzent noch geheimnisvoller. „Sie hätten mich
dort hinausfahren und dann sowieso draußen im Auto warten müssen. So haben Sie
wenigstens was zu tun. Wir sehen uns um halb vier in der Ahornallee 1.“
Dann öffnete sie ihre
Handtasche und nahm aus ihrem Portemonnaie zwei weitere Hunderteuroscheine, die
sie mir gab.
„Reicht das für den Wagen?“
Ich nickte.
„Und die Blumen?“ fragte ich.
„Richtig, die Blumen! Lassen Sie, die kaufe ich dann gleich.“
Ich wollte ihr einen
Hunderter zurückgeben, aber sie machte eine abwehrende Handbewegung.
„Besser Sie haben zuviel als zuwenig. Und den Rest“, sagte sie, „behalten Sie
einfach.“
Ich sah sie erstaunt an und dankte ihr – während in mir zugleich das Gefühl
aufstieg, daß es sich bei diesem übermäßigen Trinkgeld um eine Art
Bestechungsgeld handelte. Doch Bestechungsgeld wofür? Was war so Besonderes
daran, daß sie zu diesem Laden gegangen war? Hatte sie den Plan langst gefaßt
gehabt und mir eine Lüge aufgetischt? Aber selbst dann gab es nicht den
geringsten Grund dafür, daß sie sich über die unbeabsichtigte Begegnung Gedanken
machen mußte. Ich war, wie sie wußte, durch meinen Vertrag mit der Agentur
ohnehin an eine strikte Schweigepflicht gebunden.
All das versetzte mich endgültig in Verwunderung. Ich verabschiedete mich und
ging in Richtung des Taxistandes davon, der um die Ecke am Savignyplatz lag. Ich
drehte mich noch einmal um und rief, ich würde sie pünktlich um halb vier
abholen. „Prima, bis dann“, schrie sie zurück. Was ich dann tat, tat ich, ohne
darüber nachzudenken – und ohne es geplant zu haben. Ich wußte, daß es gegen
jede Regel war und daß es mich meinen Job kosten konnte, wenn es herauskäme –
aber ich konnte einfach nicht anders, ich mußte meiner Neugier nachgeben. Kaum
daß ich um die Ecke gebogen war, hielt ich inne, machte kehrt und schielte um
den Mauervorsprung wie ein Fünfzehnjähriger, der die Frau in der Nachbarswohnung
beobachtet, während sie sich auszieht. Viel war freilich nicht zu sehen. Ariane
von Rosen verschwand wieder in dem Laden – dann passierte ein paar Minuten lang
gar nichts, und als sie wieder herauskam, hatte sie – nichts bei sich.
Sie ging in meine Richtung, kam direkt auf mich zu, offenbar selbst auf dem Weg
zum Taxistand. Ich rannte, so schnell ich konnte, die Straße hinunter und
verbarg mich im Eingang der Sparkasse, die dort an der Kreuzung lag. Von Rosen
näherte sich. Ehe sie die Taxis erreicht hatte, stoppte sie plötzlich, änderte
die Richtung ihres Wegs und überquerte die kleine Querstraße, die vor meinen
Augen lag. Natürlich: das Blumengeschäft auf der anderen Seite. Wieder geschah
minutenlang nichts, nachdem sie darin verschwunden war. Immerhin erschien sie
diesmal mit einem opulenten, in durchsichtige Folie eingewickelten Strauß, einem
Strauß von einer Größe und Farbenfülle, wie ich ihn noch selten gesehen hatte.
Der Fahrer des Taxis, in das sie stieg, mußte die hintere Tür öffnen, damit sie
den Strauß ins Wageninnere bekam. Dann sah ich, wie sie dem Fahrer irgend etwas
sagte, und die Handbewegung, die sie dabei machte, die kleine Kurve, die sie mit
ihrem Zeigefinger in der Luft beschrieb, verriet mir, daß es sich dabei nicht um
die Adresse handelte, die ich selbst in Kürze anzusteuern hatte. Nein, als das
Taxi anfuhr, war es klar, was sein Ziel war – die Antiquitätenhandlung um die
Ecke. Und tatsächlich: Als ich mich kurz darauf wieder an der Häuserecke
postiert hatte, sah ich, wie der Fahrer aus dem Laden ein großes, schweres, in
Packpapier eingeschlagenes Objekt herausschleppte und im Heck seines Fahrzeugs
verstaute. Beim Starten des Wagens war keine Handbewegung mehr von ihr zu sehen.
Ein opulenter Blumenstrauß und ein schwerer Kunstgegenstand – das waren die
Dinge, mit denen sie sich hinaus zu der Adresse fahren ließ, die sie mir als
Treffpunkt zuvor genannt hatte.
Während ich mit einem Taxi zum Abstellplatz des Chryslers fuhr, den ich von der
Polizei mittlerweile erfahren hatte, kam ich aus dem Grübeln nicht mehr heraus.
War dies alles ein Zufall? Lag es nur an dem abgeschleppten Wagen, daß sie dies
in meiner Abwesenheit machte? Oder hatte sie den Besuch des Ladens vor mir
geheimhalten wollen? Wenn sie von vornherein vorgehabt hätte, dieses große
schwere Objekt zu kaufen, hätte es Sinn gehabt, einen jüngeren Mann wie mich zu
beauftragen, der ihr helfen würde. Aber warum ließ sie sich von ihm den ganzen
Tag durch die Gegend fahren, nur um ihn genau im entscheidenden Moment
wegzuschicken? Warum zog sie es vor, sich einen x-beliebigen Taxifahrer zu
nehmen – anstelle von mir, den sie schon teuer bezahlte?
Als ich den Wagen in der
Nähe des Olympiastadions ausgelöst hatte, fuhr ich sofort in den Grunewald, und
weil ich viel zu früh da war, kreiste ich eine Weile in dem Viertel, in dem die
Ahornallee lag - um dann wie vereinbart vor dem Haus mit der Nummer eins Posten
zu beziehen. Es war eine der typischen Grunewald-Villen, mit Erkern und Balkonen,
umgeben von dichten Hecken. Nichts rührte sich. Auch als es endlich halb vier
war, wartete ich vergeblich auf irgendeine Regung am Gartentor. Dann, um
dreiviertel vier, ohne daß sich das Geringste am Haus getan hatte, wurde
plötzlich die Beifahrertür geöffnet, und Ariane von Rosen stieg mit einem
glänzenden Lächeln, aus dem jede Spur von Melancholie verschwunden war, in den
Wagen.
„Prima, Felix, Sie haben den Wagen ja wieder“, rief sie. „Na dann, nichts wie
ins Hotel.“
Ich machte einfach, was sie mir sagte. Ich fuhr los und stellte keine Fragen.
Vor allem vermied ich es, mir selbst Fragen zu stellen. Fragen wie die, aus
welcher der Villen sie gekommen war – da es sich nicht um diejenige handelte,
vor der ich geparkt hatte. Es war offensichtlich, daß sie mir eine falsche
Adresse genannt hatte, daß sie wieder nicht hatte gesehen werden wollen – aber
es blieb mir nichts anderes, als dies zu akzeptieren und mich nicht weiter um
die Sache zu kümmern.
Der Rest des Tages verlief so beiläufig und unauffällig wie die erste
Tageshälfte. Ich brachte sie ins Hotel und wartete in der Lobby, bis sie sich
für den Opernbesuch fertiggemacht hatte. (Ich selbst wechselte auf der Toilette
meine Garderobe und zog meinen Nadelstreifenanzug an.) Um halb sechs kam sie
wieder die Treppe hinuntergeschritten, in einem langen, silbern schimmernden
Kleid, zu dem sie Riemchensandalen mit hohen Absätzen trug. Sie war jetzt zehn
Zentimeter größer als am Morgen und sah noch jünger aus. Es war erstaunlich. Ich
führte sie zum Wagen, chauffierte sie in die Oper. Ich setzte alles daran, ihr
den schönsten Opernabend zu bereiten, den sie hier erleben konnte. Ich war der
perfekte Kavalier, ich half ihr aus dem Cape, las ihr aus dem Programm vor. Mir
entging keine der kleinen Aufmerksamkeiten, von denen jede Frau sich bestochen
fühlt. Ich rollte vor ihr in Worten und Taten einen roten Teppich aus, auf dem
sie durch das klassizistische Opernhaus schwebte, und so wenig Mühe es mir
bereitete, ihr in jeder Sekunde das Gefühl zu geben, eine der bezauberndsten und
interessantesten Frauen zu sein, die es gab, so deutlich spürte ich, wie meine
intensivierte Aufmerksamkeit bei ihr verfing und sie immer beschwingter und
gutgelaunter werden ließ. Als wir auf unseren Plätzen saßen – direkt hinter dem
Dirigenten in der ersten Reihe –, erzählte ich ihr über die literarischen
Vorlagen des Don Giovanni, über die Bearbeitungen von Tirso di Molina bis E.T.A.
Hoffmann, und nun schien sie erstmals offen für derlei Ausführungen zu ein, ja
war sichtlich beeindruckt über mein Wissen (das auf mein erstes
literaturwissenschaftliches Proseminar vor über fünfzehn Jahren zurückging).
Über den Vorfall vom
Nachmittag sprachen wir mit keinem Wort. Im Gegenteil, in jeder Geste, in jedem
Satz lag soviel übertriebene Selbstverständlichkeit, als wäre nichts dergleichen
je passiert. Vor allem mir lag alles daran, die ganze Sache auszublenden. Ich
vermied es, mich auch nur zu fragen, aus welchem Grund sie nach Berlin gekommen
war oder mich engagiert hatte. Es ging mir nur noch um eines: daß sie mit mir
zufrieden war. Schließlich: Was sollte das alles? Was ging es mich an, daß sie
diesen Besuch in der Kunsthandlung allein hatte machen wollen? War sie mir etwa
zu Rechenschaft verpflichtet? Hatte sie, nur weil sie einen Begleiter engagiert
hatte, kein Recht auf ihre Privatsphäre mehr, nur weil ich mich unbedingt
gebraucht fühlen wollte?
Während Don Giovanni mit seinem schmetternden Gesang – keine zehn Meter von uns
entfernt – ein Landmädchen nach dem anderen ins Unglück stürzte, faßte ich einen
Entschluß, den ich noch nie gefaßt hatte. Ich begann, als die Pause kam, das zu
tun, was ich so vielen Frauen verweigert hatte – ich begann mit ihr zu flirten.
Und so gelöst und erleichtert sie im Grunewald in den Wagen gestiegen war, so
offen war sie nun für derlei Spielereien. Sie ging auf meine Komplimente mit
lächelnden Erwiderungen ein, ohne mir umgekehrt auf jene zudringliche Weise
näherzurücken, die ich sonst immer als so abstoßend, so bedrängend empfunden
hatte. Sie genoß die Schmeicheleien, aber es war von vornherein klar, daß sie
eine Frau war, die sich niemals zu mehr hinreißen lassen würde.
Als die Oper vorbei war
und ich ihr vor dem Hotel die Wagentür öffnete, bedankte sie sich für den Tag,
und ich war mir selbst fast nicht mehr sicher, ob die Dinge am Nachmittag
tatsächlich stattgefunden hatten.
„Schade“, sagte sie, „schade, dass dieser Tag nun vorbei ist. Es hat mir
wunderbar in Berlin gefallen.“
Ich wusste nichts über
sie. Ich wusste nicht, wohin sie am nächsten Morgen fuhr, noch welches Leben sie
sonst führte. Ich wußte nur, daß ich sie Wiedersehen würde. Ich begleitete sie
bis zum Hoteleingang und fragte sie noch einmal, ob ich ihr das Geld für die
Blumen nicht zurückgeben solle. Sie aber bestand darauf, daß ich es behielt, und
weil ich es wahrlich gebrauchen konnte, gab ich bereitwillig nach. Als sie in
die Drehtür trat und sich noch einmal umwandte, sah ich, wie in ihr Lächeln
plötzlich jener Anflug von Melancholie zurückgekehrt war.
(Kron, 250-278)
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