Parteien   Wörter und Unwörter des Jahres  
Projekte und projektartige Aufgaben   Literarische Texte  
1 >  2 >  3 >  4 >  5 >  6 >  7

7. Aufgabe

Nirgends auf der Welt wird so oft abgestimmt, wie in der Schweiz. Der folgende Artikel aus der Zeitschrift „Geo-Spezial – Schweiz“ (2002) versucht dem Leser die direkte Demokratie näherzubringen.

A/ Lesen Sie den Text, und unterstreichen Sie die Aussagen, die für Sie neu sind.

B/ Was schreibt der Autor über die direkte Demokratie? Notieren Sie!

C/ Im vorletzten Abschnitt werden viele Schweizerinnen und Schweizer genannt. Wählen Sie mit einem Mitstudenten/einer Mitstudentin eine Person aus, und informieren Sie sich darüber, wer diese Person ist. Überlegen Sie sich, warum diese Person als Referenzperson angegeben wurde.

Alles Geordnet, ToTal RadikAl

Was eigentlich hält die Schweiz zusammen? Dieses Land ohne Nation? Wer meint, vor allem Gemeinsinn und Effizienz, der irrt. Denn hinter den altväterlichen Tugenden verbirgt sich ein überraschend rebellischer Geist

Achtung, das wird ein patriotischer Text. Obacht, es folgen einige lange Sätze. In mir schlummerten diese Zeilen, eine Antwort auf alle, die mein Land von oben herab betrachten, vom Norden herab, und die – sobald Schweizerisches ansteht – jedes zweite Wort mit dem Diminutiv versehen, von Fränkli bis Bergli und bis zum Überdruss, mit jenem „li“ also, das den Deutschen offenbar geläufiger ist als den Einheimischen. Ohnehin reden Letztere in stattlicher Zahl Französisch oder Italienisch, beides Sprachen, in denen das „li“ so spärlich vorkommt wie im Albanischen, einem eingewanderten Idiom, das in der Schweiz mehr gesprochen wird als das Rätoromanische. Welches wiederum unterteilt ist in fünf Dialekte, nämlich Sutselvisch (Domleschg und Schamsertal), Surselvisch (Vorderrheintal), Surmiran (Tiefencastel, Albulatal, Oberhalbstein), Puter (Oberengadin ohne Zernez) und Vallader (Zernez, Unterengadin und Münstertal) – wobei man das im Münstertal gesprochene Vallader unter Umständen als sechsten Dialekt gelten lassen kann. Am Ende der langen Sätze sind wir am Anfang des Problems. Die Schweiz ist kompliziert.
Wer sie verstehen will, darf den Aufwand nicht scheuen. Aber die meisten Besucher haben weniger Zeit als Franken, und Zeit ist die Währung, um ein Gefüge zu begreifen, in dem sich nichts fügt. Die Erklärung der Schweiz dauert länger als deren Durchquerung, selbst wenn Stau ist am Gotthard. So begnügen sich Reisende mit der Oberfläche, die schön ist und von Gott – der in der Schweizer Verfassung vorgesehen ist – ihr Relief bekam.
Mit diesem Bergland verhält es sich wie mit der sprichwörtlichen spanischen Herberge, in der Gäste nur das finden, was sie mitbringen: Deutsche Konservative sehen das Beharrliche an der Schweiz, die Grünen bewundern das Fortschrittliche im Verkehrswesen, die Wirtschaftsliberalen schauen auf den freien Arbeitsmarkt, die Linken sichten die mustergültige soziale Vorsorge. Und die ganz Linken blicken zurück; sie denken an Lenins Zürcher Zeiten oder an die unbotmäßige Eidgenossenschaft des 19. Jahrhunderts, die den 30er- und 48er-Revolutionären Asyl bot, sehr zum eigenen Vorteil, weil es sich um Europas intellektuelle Elite handelte. Womit wir auf Zeile 45 dieses Beitrags bereits beim schweizerischen Egoismus sind, unweit des Bankgeheimnisses.
Darin sind sich nämlich alle einig, die Linken und die anderen: dass es sich um ein eigennütziges, auch eigensinniges Volk handele, sofern die Schweizerinnen und Schweizer – die weibsmännische Doppelform ist hierzulande Pflicht – wirklich ein Volk bilden. Eine Nation sind sie nicht. Es sei denn, man lasse die nette Formel gelten, dass Schweizerinnen und Schweizer zur „Willensnation“ gefunden haben; die Schweizer jedoch viel früher als die Schweizerinnen, die erst von 1971 an mitentscheiden durften in eidgenössischen Dingen. Indessen, das Willensnationale ist so blutleer wie in der Bundesrepublik das Verfassungspatriotische. Es muss etwas anderes sein, das die schweizerische Welt so lange und lose schon zusammenhält.
Nach vielen, vielen Bürgerkriegen – die Geschichte meiner Vorväter trieft von Blut – hörten sie 1848 auf, immerzu aufeinander zu dreschen. Stattdessen verwandelten sie ihren Staatenbund, der noch viel chaotischer war als heute die Europäische Union, in einen Bundesstaat, der für die EU Vorbild sein könnte, wäre die Schweiz nur Mitglied derselben, was der Schreibende erleben wird; er hofft auf weitere drei Jahrzehnte Erdendasein.
Als nun Frieden eingekehrt war in der Eidgenossenschaft, stellte sich heraus: Die Schweizer waren ein bisschen weise geworden, klug genug, ihre Institutionen so zu gestalten, dass die Minderheiten nicht zu kurz kamen. Die lateinische Schweiz stellt seither, weit über ihren Bevölkerungsanteil hinaus, zwei bis drei der sieben Bundesräte, die das Land mehr verwalten als regieren. Ob groß oder klein, alle Kantone entsenden zwei Abgeordnete in die kleinere Kammer des Parlaments, den Ständerat. Das sorgt für Ausgleich, es ist Weisheit. Der Rest ist Glück. Durch die Schweiz nämlich verlaufen unzählige Grenzlinien: zwischen den Kantonen und innerhalb derselben; zwischen den vier Sprachgruppen; zwischen katholischen und protestantischen Gebieten; zwischen Landstrichen liberaler und konservativer Prägung; zwischen reichen und armen Räumen, denn auch solche gibt es. Das Glück nun liegt darin, dass die Trennlinien wirr verlaufen; allerorten herrscht ein Durcheinander. In meinem zweisprachigen Heimatkanton Freiburg findet sich:
1) eine französischsprachige, katholische, konservative Mehrheit; 2) eine französischsprachige, katholische, freisinnige Minderheit; 3) eine französischsprachige, protestantische, freisinnige Minderheit; 4) eine französischsprachige, protestantische, konservative Minderheit; 5) eine deutschsprachige, katholische, konservative Minderheit; 6) eine deutschsprachige, katholische, freisinnige Minderheit; 7) eine deutschsprachige, protestantische, freisinnige Minderheit; 8) eine deutschsprachige, protestantische, konservative Minderheit.
Bei dieser Darstellung der Verhältnisse, in denen nicht einmal 240 000 Menschen leben, handelt es sich um eine grobe Vereinfachung. Der Leser wird sie mir um des Leseflusses willen nachsehen. Aber genau so funktionieren wir Schweizer, nicht sehr flüssig. Manchmal überwiegt die Solidarität in der Sprachgruppe, manchmal ein anderer Zusammenhalt, ein kantonaler, konfessioneller, parteipolitischer, regionaler. Nach wechselnden Kriterien bilden sich wechselnde Koalitionen. Deshalb kommt es, anders als in Belgien etwa, selten zur dauerhaften Frontstellung zwischen Regionen. Aber wehe, wenn!
Wenn es ausnahmsweise soweit ist, wenn sich zwei oder drei Trennlinien überschneiden, aus dem Craquelé ein Riss wird und aus dem Riss ein Graben, dann kann daraus beispielsweise, wie geschehen, eine separatistische Jurassische Befreiungsfront entstehen, die den französischsprachigen, katholischen, armen Jura vom deutschsprachigen, protestantischen, reichen Kanton Bern trennen wollte, bis man sich nach langen Wirren und einigen unblutigen Sprengstoffanschlägen 1978 tatsächlich trennte. Daraus erwuchs ein nigelnagelneuer Kanton Jura, und alles, alles wurde wieder gut. Außer dass im Südjura die Minderheit der französischsprachigen, protestantischen, reichen Jurassier beim Kanton Bern verblieb, was die übrigen französischsprachigen, katholischen, armen Jurassier ärgert. Vous avez compris? So etwas macht unsere Statik aus, die „nossa chaussa communable“, wie Rätoromanen sagen würden, „unsere gemeinsame Sache“. Jeder hat mit jedem schon koaliert und schon gestritten. Wenn jeder mit jedem muss, ist jeder mit jedem gleich, gibt es kaum Prestigedenken: Das egalitärste Land der Welt ist die Schweiz. Ein reißfestes Gewebe, weil alles mit allem verknotet ist. Die einen sehen darin Stabilität, die anderen Rigidität. Beide haben Recht, das heißt, sie irren sich auch ein bisschen.
Denn diese fest gefügte Schweiz hat sich schneller zu erneuern gewusst als jeder ihrer Nachbarn, trotz oder vielmehr dank der Tatsache, dass die Bürgerinnen und Bürger das letzte Wort haben. Weil sie – statt des Parlaments – entscheiden, bewegt sich allerdings in manchen Fragen nichts, zumal in der Gretchenheidifrage des Beitritts zur Europäischen Union. Da zögen es die Deutschschweizer vor, die EU träte der Schweiz bei. Ginge es nach den Romands, wären wir längst in der Union Européenne.

Bleiben wir bei der direkten Demokratie, wie es die Schweizer Bürger seit 1874 tun, als sie zum Schluss kamen, sie wollten in ihrem Bundesstaat mehr zu sagen haben. Das war modern. Früher oder später werden die anderen, allzu parlamentarischen Demokratien nicht umhin können, Elemente direkter Demokratie zu stärken. Die westeuropäische Gesellschaft hat inzwischen einen Reifegrad, der es dem Bürger eigentlich verböte, fast alles so genannten Volksvertretern zu überlassen, die von den Fraktionschefs gegängelt werden, sobald sie sich den Luxus einer eigenen Meinung gönnen. Wie lange noch lassen sich Europäer des 21. Jahrhunderts derart demütigen? Wenn Sie, werte Leser, in einer Schweizer Zeitung lesen, dass in dieser oder jener Frage „der Souverän“ entschieden habe, dann ist das Volk gemeint – ein Volk, das um seine Macht weiß und allergisch reagiert, sobald sie angefochten wird.
Die üblichen Warnungen vor der Gefahr direkter Demokratie – zum Beispiel, die Deutschen würden die Todesstrafe wieder einführen – wirken so stumpfsinnig, wie die Dufourspitze spitz ist, 4634 Meter über dem Meer, der höchste Schweizer Gipfel. In der Eidgenossenschaft begehrte einmal eine Hand voll Rechtsextremer, man möge wieder guillotinieren, erschießen oder hängen. Auf Anhieb scheiterte ihre Volksinitiative. Sie schafften es nicht, auch nur ein paar tausend der nötigen hunderttausend Unterschriften zu sammeln, da war die direkte Demokratie stärker: Das Stammtischgerede, Verbrecher müssten beseitigt werden, ist das eine. Das andere ist es, mit seinem Stimmzettel dafür zu sorgen, dass Menschen vom Leben in den Tod befördert werden dürfen.
Der Schweizer Bürger entscheidet nicht dümmer als der Abgeordnete des Deutschen Bundestags. Das ist der Vorteil direkter Demokratie: dass der Kenntnisstand jener 30 bis 40 Prozent Schweizerinnen und Schweizer, die regelmäßig über unterschiedlichste Vorlagen abstimmen, so gut ist wie derjenige der Parlamentarierinnen und Parlamentarier.
Wo wir beim Personal sind, müssen wir en passant (Schweizer lieben es, Französisches einzuflechten ins „Schriftdeutsch“, und es gibt wunderbare Schriftsteller, die des Schriftdeutschen mächtig sind, des Hochdeutschen aber nicht), müssen wir auf den Zürcher Christoph Blocher zu sprechen kommen, den starken Mann der Schweizerischen Volkspartei SVP, den „Jörg Haider der Schweiz“, wobei Blocher dummerweise intelligenter ist als der österreichische Langweiler. Wir müssen auf den Rechtspopulisten Blocher hinweisen, den Antieuropäer, den erfolgreichen Unternehmer, den Milliardär mit seinen reichen Freunden Martin Ebner, einem gefürchteten Börsianer, und Walter Frey, einem großen Autoimporteur, der lange Zeit Fraktionschef der SVP war.
Dieses Trio dürfte selbst nach dem Börsenkrach einige Milliarden Franken sein eigen nennen, und nicht geringe Beträge davon fließen in die Politik.
Diese Partei hat Geld, Geld, Geld, ihr Marketing ist so professionell und provokant wie das von Benetton: Nirgends auf der Welt wird mit so großen Mitteln auf ein so kleines Volk eingewirkt. Ein unheimliches Phänomen, kein demokratisches, es stellt selbst die Medienmacht des Nachbarn Silvio Berlusconi in den Schatten. Mit modernsten Mitteln vertreten der Mailänder Mogul wie der Zürcher Mogler die Antimoderne, es macht ihren Erfolg aus. Berlusconi jedoch kann pro Italiener viel weniger Kampfgeld einsetzen als Blocher pro Schweizer.
Wobei die Schweizer auch da Maß halten. Kein einziges fremdenfeindliches Volksbegehren haben sie je angenommen. Trotz der heftigen Gegenwehr Blochers haben sie ein Antirassismus-Gesetz bestätigt, das um so stärker greift, als es vom Volk beschlossen worden ist: Der Bürger hat sich selbst verpflichtet. Und die SVP, sie wächst zwar. Aber in Kantonsregierungen ist sie krass untervertreten. Eine Protestpartei, der man nicht viel an Verantwortung zumutet. Eidgenossen sind einmütig im Bestreben und virtuos in der Kunst, Macht zu beschränken, auch das hält dieses Land zusammen.
Schluss mit Blocher, weiter im Text, wir wollen nicht mitjodeln mit der deutschen Presse, die gern die Postkarten-Schweiz beschreibt, um dann schadenfreudig zu vermelden, vieles sei ganz und gar nicht so schön wie auf der Postkarte. Das Debakel mit Swissair war ihr ein Genuss.

Unsterblich ist nur die Trauer: So viel Gemeinsames haben der Genfer Privatbankier und die Appenzeller Bergbäuerin nicht, als dass es unerheblich wäre, ob die Swissair besteht oder nicht mehr. Das heterogene Land hat ewig Angst vor dem Nichtsein. Es braucht Sinnbilder der Zusammengehörigkeit. Es braucht neben den Bergen, neben der langen Geschichte (die so gemeinsam nicht immer ist, wenn man bedenkt, dass die ersten Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden 1291 zusammenkamen, im Kanton Neuenburg aber der preußische König erst 1857 auf seine Rechte verzichtete), neben der direkten Demokratie (die sich neu finden muss in der Globalisierung, in der ein Volk nicht mehr alles für sich allein bestimmen kann), neben dem Bürgerstolz (der manchmal dem Verbraucherwahn weicht), neben dem mächtigen, egalitären Sinn für Ausgleich (der unter dem Neoliberalismus schwand und wieder emporkommt), neben dem Wohlstand (der jungen Datums ist), neben Weltkonzernen wie Nestlé (in dessen achtköpfigem Vorstand nur zwei Schweizer sitzen), neben dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, neben all dem braucht und sucht die Schweiz fortwährend nach Wahrzeichen. Eines war Swissair.
Weil aber kleine Fluggesellschaften in deregulierten Zeiten dem Untergang geweiht sind, musste Swissair groß werden; sie kaufte sich ein in flügellahme Airlines, sie übernahm sich, wobei das Zürcher Establishment sich blamierte, die Zunft der Bankiers erst recht.
Doch die Bahnhofstraße soll hier nicht vorkommen. Es darf EINMAL über eine Schweiz ohne Banken geschrieben, davon geträumt werden. Es gibt Gescheiteres als Geldhäuser, Geheimeres als das dem Niedergang geweihte Bankgeheimnis. Die Eidgenossenschaft geht strenger als ihre Nachbarn gegen Geldwäscher vor, weshalb diskretes Geld mehr und mehr das Land meidet; lieber fließt es über Österreich etwa, wo der Kunde ein Konto eröffnen kann, ohne sich auszuweisen, was im Schweizer Bankenparadies ein Sündenfall wäre.
Mein Gott, es ist wohltuend, die Schweiz zu schonen, sie – einmal ist keinmal – nicht zu kritisieren! Das früher selbstgefällige Land geht seit Jahren überkritisch mit sich um. Käme es der Bundesrepublik in den Sinn, bei einer Weltausstellung im deutschen Pavillon zu verkünden: „Deutschland gibt es nicht“? Das tat die Eidgenossenschaft in Sevilla, „La Suisse n’existe pas“; es gab darob Riesenärger.
Aber der Spruch war visionär, weil: la Swissair n’existe plus, le Bankgeheimnis n’existe bientôt plus, le Heldentum der Schweiz im Weltkrieg n’existe plus, le Sonderfall n’existe plus. Alles wird banal? Überhaupt nicht, langweilig wird es nie – denn die Schweiz ist ein radikales Land: Das ist seine beste und am besten versteckte Eigenschaft.
Nicht nur in ihrem Verständnis von Demokratie geht die Eidgenossenschaft weiter als andere. Vom Dadaismus, der in Zürich emporkam, bis zur Autonomen Bewegung, die gewalttätig war wie nur in Berlin, von Jean Tinguely und seinen Kunstmaschinen bis Pipilotti Rist und ihrer Elektronikkunst, vom freien Drogenmarkt bis zum Wirtschaftsliberalismus der „Neuen Zürcher Zeitung“, von Le Corbusier über Mario Botta bis Herzog & de Meuron, von Blaise Cendrars – dem Schriftstellervorbild Henry Millers – bis zum Krimi-Junkie Friedrich Glauser, von Robert Walser und seinem „Gehülfen“ bis zu Hermann Burger und seiner Hassmutterliebe zur Schweiz, von Dürrenmatt bis Frisch, vom verfemten Patrioten Niklaus Meienberg, den sie bis in den Tod gering- und unterschätzten, bis zum verunglimpften Patrioten Adolf Muschg, der lächelnd standhaft bleibt, von Jean-Luc Godard bis Dieter Meier von Yello, einem Gründervater der Techno-Musik, vom Hotelier Ritz bis zum Ballon-Erdumrunder Piccard, von Botschafter Thomas Borer bis zur texo-helveto-kosmo-berlino-Lady Shawne Fielding-Borer, vom Ausstellungsmacher Harald Szeemann bis zu Mummenschanz, von Grock bis Emil, von Luc Bondy bis Christoph Marthaler, alle waren, sind irgendwie total radikal.
Es gibt Abertausende, die in ihrer Ecke arbeiten, oft ohne Aufsehen und Aufhebens, die aber in der Ecke Extremisten sind. Von manchen weiß man nicht, dass sie Schweizer sind, weil sie gern das Land verlassen wie Godard. Im Alter kehren so einige zurück, ein mächtiger Stalldrang.
Der Ordnungssinn – jener Firnis, den die Ausländer sehen – verdeckt bloß die Radikalität. Die Schweizer sorgen deshalb für Ordnung, weil sie wissen, wie rasch bei ihnen ein Konflikt ausartet, sobald er ausbricht. Die Ordnung ist Korsett, korsettiert sind Fleisch und Blut und andere Säfte, Leben, Anarchie, Leidenschaft, Amok. Es ist auf schönste Weise radikal, wenn man ohne Kontrolle ins Parlament gelangen kann, jedoch auf schlimmste Art radikal, dass einer ungehindert in dieses Zuger Kantonsparlament tritt und ein Blutbad anrichtet.
Es ist anarchistisch, dass Bürger im Grunde keine Regierung wollen, extremistisch, dass der Wehrdienstleistende am Wochenende und nach der Dienstzeit das Gewehr nach Hause nimmt. Es ist kompromisslos, wie in Zürich der private Verkehr eingedämmt, dem öffentlichen Verkehr Bahn gebrochen wird. Die Schweizer sind dermaßen rücksichtslos in ihrem Streben, dass sie Maß halten müssen in ihrem Tun. Und dann verwandeln sie sich in Extremisten des Maßhaltens.
Sie wissen nämlich: Schlägt einmal das Schicksal, hört es nicht auf zu schlagen. So wie im Herbst 2001 – im Zuger Parlament, im Gotthard-Tunnel, im Anflug auf Zürich-Kloten, wo zum zweiten Mal eine Crossair-Maschine abstürzte, in Zürich-Kloten selbst, wo Swissair nicht mehr ist. Inmitten und zugleich am Rande von Europa gelegen, hat das Bergland zwei Reflexe, sagt der Historiker Jean-François Bergier: Die Alpen sind einerseits ein Ort des Rückzugs, wo man sich am liebsten fernhalten möchte von den Weltwirrnissen. Die Alpen andererseits sind Ort des Transits, mithin des Handels, der Weltoffenheit.
Beides wirkt in der Schweiz, gar in jedem Schweizer. Das birgt eine Spannung, die vielleicht die Radikalität erklärt. Denn sie bleiben die Radikalinskis, die sie in ihrer Geschichte waren, Kerle, die partout nicht mit Habsburg wollten, nicht etwa wg. Wilhelm Tell und Freiheit und weil sie mit Gessler nichts am Hut hatten, sondern weil sie sich fragten, weshalb mausarme Bergler das Mautgeld, das sie längs der Passwege einnahmen, an Habsburg abführen sollten.
Immer grenzten sie sich ab vom „großen Kanton“, wie Deutschland bis heute genannt wird. Mit Luther konnten sie nichts anfangen, eigene Reformatoren mussten her aus dem Toggenburg und aus Frankreich, der kleine Zwingli in Zürich, in Genf der große Calvin. Und 1648 beim Westfälischen Frieden nahmen sie die Gelegenheit wahr, sich vom Reich förmlich zu verabschieden.
Dabei ist es geblieben, dass sie die Dinge anders machen, oft besser, viel schneller, manchmal unendlich langsam, immer speziell. Wie Kinder, die sich nichts sagen lassen. Wie Bauern, die ihren Weg gehen. Wie Söldner – die letzten Hellebardiere dienen dem Heiligen Vater –, denen man nichts vormacht. Oder wie jene Geldvernichtungsmaschine des Künstlers Max Dean, die an der Expo 2002 fünf Monate lang Banknoten im Wert von 30 Millionen Franken schreddern soll, dank Sponsoring der Nationalbank und unter dem Generalthema „Macht und Freiheit“.
Wie man die Schweizer sieht, sind sie nicht. Die Schweiz, die der Durchreisende erblickt, gibt es nicht. Meine schon.

Roger de Weck, 48, Schweizer französischer Muttersprache, bis 1997 Chefredaktor des Zürcher „Tages-Anzeiger“, der zweitgrößten Schweizer Zeitung, bis 2000 in Hamburg Chefredakteur der „ZEIT“, lebt als Publizist in Berlin und Zürich und arbeitet für deutsche, französische und Schweizer Medien.
(Weck, de, 2002)

1 >  2 >  3 >  4 >  5 >  6 >  7
Kontakt Impressum