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8. Aufgabe

A/ Bearbeiten Sie den folgenden Artikel, der im Vergleich zu den anderen relativ lang, inhaltlich und auch sprachlich sehr anspruchsvoll ist, eher zu Hause. Überfliegen Sie zuerst den Text, und notieren Sie bei den Textteilen, worum es geht. Wenn Sie etwas nicht verstehen, greifen Sie zu einem einsprachigen Wörterbuch, und schreiben Sie die Wörter mit der deutschen Erklärung auf. Am Ende Ihrer Wörterbucharbeit empfehlen wir Ihnen, die aufgeschriebenen Wörter nach deren Bedeutung zu gruppieren.

B/ Suchen Sie im Text Passagen, die sich auf das Demokratieverständnis der Deutschen beziehen! Was war für Sie diesbezüglich neu?

C/ Welche Parteien, Politiker werden in dem Artikel genannt? In welchem Zusammenhang?
Formulieren Sie für sich in einigen Sätzen, was der Artikel an Wissen, Kenntnissen, Einstellungen usw. gebracht hat!

Eine Nation auf der Suche

Lange definierten sich die Deutschen über die Schrecken der NS-Verbrechen und verachteten nationale Gefühle. Jetzt, 60 Jahre nach Kriegsende, verlieren sie langsam die Angst vor sich selbst. Doch noch fehlt der deutschen Gesellschaft ein tragfähiger Zukunftsentwurf.
Von Jürgen Leinemann

Paris, am 8. Mai 1995. Mit schweren, gravitätischen Schritten paradierte der französische Staatspräsident François Mitterand über den weiten Platz am Arc de Triomphe, gefolgt von einer halben Hundertschaft von Königen, Präsidenten, Regierungschefs und Staatsmännern Europas. Alle waren fast automatisch in den schleppend zeremoniellen Gang verfallen, den der Franzose vorgab – eine quasimilitärische Ehrenformation auf dem Weg zur ewigen Flamme am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Nur am hinteren rechten Rand der feierlichen Prozession schlurften zwei gewichtige, durch und durch zivilistische Figuren irgendwie außer Takt nebenher, habituell unfähig zum Gleichschritt, aber davon nicht peinlich berührt: Roman Herzog, Präsident, und Helmut Kohl, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, beide ungedient.
Spätestens da, auf den Tag genau 50 Jahre nach der Kapitulation der Nazi-Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, hätten die Siegermächte ihren Erziehungsauftrag für die geschlagenen Überlebenden des Großdeutschen Reichs als erledigt betrachten können. Denn überzeugender als Herzog und Kohl, die beiden staatsmännischen Repräsentanten der wiedervereinigten Bundesrepublik, hätte nichts und niemand den vollständigen Vollzug von Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung verkörpern können. Der Abschied von Drill und Stechschritt war gelungen. Die beiden Herren symbolisierten ein Deutschland, das niemandem Angst machte.
Das war wohl der positivste Teil der Bilanz der letzten politischen Generation, die noch persönliche Erinnerungen an das „Dritte Reich” Adolf Hitlers hatte – die Furcht vor einem Wiedererwachen des deutschen Militarismus, vor dem Geist Preußens und einer dunklen Sehnsucht nach Heroismus haben sie bei all ihren Nachbarn beseitigt. In der Phase nach der deutschen Vereinigung war das gewiss kein geringes Verdienst. Deshalb waren die Regierenden der vereinigten Bundesrepublik dabei, in London, Paris, Berlin und Moskau, als die europäischen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs den 50. Jahrestag ihres Siegs feierten.
Es bedurfte aber noch eines weiteren Jahrzehnts – einer neuen Generation an der Regierung, des Umzugs in eine neue Hauptstadt und einer radikal veränderten weltpolitischen Situation –, bis auch die Deutschen selbst, ohne ihre Vergangenheit zu verdrängen, die Angst vor sich zu verlieren begannen. Kein öffentliches Gemurre folgte dem bis dahin unerhörten Bekenntnis des 2004 gewählten Bundespräsidenten Horst Köhler, Jahrgang 1943, als er nach seiner Wahl verkündete: „Ich liebe unser Land.”
Schon im Frühjahr 2001 hatte die „New York Times” nach einem Besuch von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Kriegsjahrgang 1944, „eine neue Unabhängigkeit” der deutschen Politik registriert. Nach kontroversen Gesprächen mit Präsident George W. Bush im Weißen Haus befand der deutsche Regierungschef damals kühl: ”Die Vorstellung, wir würden hier die Hacken zusammenschlagen, war falsch.”
Fortan bewegte sich der SPD-Bundeskanzler – ohne sich dafür zu rechtfertigen, aber auch ohne „die moralische und politische Verantwortung für das, was wir getan und unterlassen haben”, von sich zu weisen – als Regierungschef mit ähnlich pragmatischem Selbstbewusstsein auf der internationalen Bühne wie seine Kollegen Jacques Chirac, Tony Blair und Wladimir Putin. Schröder: „Wir sollten uns nicht kleiner machen, als wir sind.” Die Einladung des französischen Staatspräsidenten im vergangenen Jahr, an den Jubiläumsfeierlichkeiten zur alliierten Landung in der Normandie teilzunehmen, war eine willkommene Geste für eine Generation von Deutschen, die an das Dritte Reich keine persönliche Erinnerung mehr hat. Der Kanzler empfand sie als bestätigendes Signal: „Die Nachkriegszeit ist zu Ende.”
Nicht, dass damit die Vergangenheit plötzlich für immer vergangen wäre. Im Gegenteil – mehr noch als einst in Bonn leben die Deutschen und ihre politischen Repräsentanten in Berlin mit den allgegenwärtigen Erinnerungen an die Hitler-Barbarei. Doch als identitätsstiftendes Moment, als negative Folie für das nationale Selbstverständnis wird Adolf Hitler kaum noch benutzt. Das Trauma ist vertraut, die moralische Last akzeptiert. Nun kommen auch die eigenen Leiden in den Blick – die Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung.
Epochenbruch. Klimawechsel. Zäsur. Vorbei die Zeit, als Bonn sich in einer taktischen Zwergenrolle auf der internationalen politischen Bühne versteckte, zu Ende ist freilich auch der selbstgefällige Auftritt des wirtschaftlichen Riesen Deutschland. Das 60. Jahr nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reichs begann mit den höchsten Arbeitslosenzahlen seit dem Ende der Weimarer Republik – über 5 Millionen im Januar 2005, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement rechnete noch 1,5 Millionen aus staatlich subventionierten Arbeitsbeschaffungs- oder Qualifizierungsprogrammen hinzu – damit wären mehr Deutsche ohne Job als 1932, in dem Jahr vor Hitlers Machtübernahme. Seit Jahren stagnieren Reallöhne und Renten, die Sozialleistungen werden beschnitten, das Wirtschaftswachstum ist kärglich, die Zahl der Pleiten beängstigend. Dem „Deutschland des Mehr” dämmere schmerzhaft die Erfahrung, sich in eine „Gesellschaft des Weniger” zu verwandeln, konstatiert der Soziologe Ulrich Beck.
Hält die von Kanzler Schröder vollmundig gepriesene „ungeheuer stabile gefestigte Demokratie” das aus? Wirtschaftswunder und Wohlstand galten als Basis der intakten Bonner Republik. Und in der DDR hatten Arbeitsplatzgarantien und egalitäre Praktiken ein beruhigendes Lebensgefühl verschafft. Beides suggerierte Sicherheit in einem Land, in dem keine intakten Traditionen und kollektiven Verbindlichkeiten die zahllosen politischen und kulturellen Streitpunkte der innerlich zerrissenen und verwundeten Deutschen eindämmten.
Entsprechend idyllisch und friedfertig klingt das Vokabular, mit dem die Bürger der beiden verblichenen deutschen Nachkriegsstaaten ihre gute alte Zeit beschreiben. Gemeinschaftsgefühl, Familiensinn und menschliche Wärme sind Begriffe, die sich vielen Ostdeutschen aus der Erinnerung aufdrängen. Stabilität, Konsens und innerer Friede waren Schlüsselworte der alten Bundesrepublik, die in der Tat – wie Helmut Kohl moniert hatte – eine Art Freizeitpark war, voller guter Menschen mit den höchsten Löhnen und den längsten Urlaubszeiten. Mag Nostalgie auch den Blick auf die lauen Wohnen des goldenen Westens und die kuschelige Nischenwelt des menschelnden Ostens verklären – dass es rauer, lieb- und hoffnungsloser zugeht in der Berliner Republik, steht außer Frage. Die Gegensätze sind schroff, der Umgangston ist rüde, und was sich wie Toleranz gebärdet, ist oft teilnahmslose Egomanie. Gier ist geil.
Ist das die Stunde der Neonazis? Haben rechtsextreme Parteien in Deutschland wieder eine Chance? Seit die NPD nach einem spektakulären Wahlerfolg (9,2%) in den sächsischen Landtag einrückte und dort mit provozierender Dreistigkeit fremdenfeindliche und geschichtsrevisionistische Politik betreibt, geben sich die demokratischen Parteien wieder höchst alarmiert. Ihre bisher gescheiterten Versuche, die NPD als verfassungswidrig zu verbieten, stehen indes in einem befremdlichen Kontrast zum fehlenden Engagement, vor allem in den neuen Ländern – aber nicht nur da –, das Recht gegen glatzköpfige Gewalttäter durchzusetzen. Ausländer und links engagierte Jugendliche leben in vielen ländlichen Gebieten in permanenter Gefahr.
Vor diesem Hintergrund wirken die verbalen Bekundungen der Demokraten gegen den Rechtsextremismus bisweilen wie ein Alibi, um zu vertuschen, dass sie über keine tragende Idee für das Gemeinwohl der Bürger verfügen. Innenminister Otto Schily will es scheinen, als ob plötzlich unter der Tünche des frischgestrichenen Hauses der Deutschen alte Bilder wieder aufscheinen.
Aber sind es wirklich Dämonen, die da zum Vorschein kommen, wie Michael Friedman warnt, Nachwuchs einer neuen alten Bewegung vom mörderischen Rassisten und Antisemiten? Oder spielen sich bloß Bewunderer von lächerlichen Figuren auf, wie Henryk M. Broder glaubt, von „komischen aufgeblasenen Wichteln”, die man weglachen muss? Sind Neonazi-Aufmärsche Metastasen der brauen Vergangenheit, oder nutzen provokante Revoluzzer der Gegenwart die Schockwirkung der Hitler-Barbaren für effekthascherischen Krawall?
Bonn war nicht Weimar, Berlin ist es auch nicht. Alle Vergleiche des heutigen Deutschlands mit der Zeit vor Hitlers Machtübernahme sind schiere Panikmache. „Die Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit haben dazu geführt, dass der Rechtsextremismus hierzulande stärker stigmatisiert ist als in jedem anderen europäischen Land”, glaubt der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker. „Dies gilt sowohl in rechtlicher als auch in sozialer Hinsicht.” Gewiss erleiden viele Jugendliche derzeit die reale Erfahrung, dass die Gesellschaft für sie weder Interesse noch Verwendung hat. In dieser Situation werden Bilder, Parolen, Phantasien und Mythen einer angeblich großdeutschen Vergangenheit reaktivierbar. Doch immer – da sind sich Historiker und Betreuer von lokalen Anti-Nazi-Initiativen einig – ist das konkrete Erleben der Ausgrenzung wichtiger als die Ideologie.
Handlungsbedarf besteht allerdings durchaus. Denn die Gewalt ist real. Und wie in anderen europäischen Republiken ist auch im wiedervereinigten Deutschland ein beträchtlicher Bodensatz rassistischer und vor allem ausländerfeindlicher Ressentiments unbestreitbar.
Doch mit öffentlicher Bekundung von Abscheu und Empörung, mit wohlfeilen Worten und gelegentlichen symbolischen „Aufständen der Anständigen” ist es nicht getan. Daran mangelt es ja nicht. Aber ein verheißungsvoller Zukunftsentwurf demokratischer Politiker wäre gewiss wirkungsvoller als juristische Expertisen. Wie nach 1949, nach 1969 und 1989 wäre es Zeit für ein neues Modell Deutschland – weniger für die Welt als für den Hausgebrauch.
Doch das ist bisher nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. Stattdessen überall Fragen, nirgendwo Antworten, wenigstens keine, die qualitativ Neues erahnen lassen. Eine ziellose Gesellschaft dümpelt orientierungslos dahin. Eine große allgemeine Ratlosigkeit über langfristige Ziele wird überdeckt durch hysterische Debatten um Kleinigkeiten. Modernisierung? Mobile Gesellschaft? Globalisierung? Das Neue erscheint vielen vorwiegend als Verlust.
Berlin ist ein symbolischer Spiegel der Situation. Es ist alles nebeneinander da in der alten Hauptstadt der neuen Republik – Isolation und Lebensnähe, Geschichte und Zukunft, Stillstand und Dynamik, Ost und West. Seit die Konturen der beiden deutschen Staaten sich aufzulösen begannen, hat eine Bilderflut der Medien das Gewohnte und Bewährte überschwemmt.
Dass sich der Rechtsextremismus und die Erinnerung an die Hitlerei so aufdringlich sichtbar präsentieren wie noch nie seit dem Ende der Nazi-Zeit, hat damit zu tun. Propagandaminister Joseph Goebbels hatte dafür gesorgt, dass das Nazi-Regime sich in üppiger Bilderfülle präsentierte. Dieser Fundus ergießt sich nun – verarbeitet in Fiktion und Dokumentation – über Fernsehen und Kinoleinwand in die Welt der Enkel, die keine eigene Kenntnis mehr haben von dieser Zeit, die eine einzige riesige „crime story” war. Der Filmemacher Lutz Hachmeister, der gerade eine Goebbels-Dokumentation vorgelegt hat, sagt: „Hier bündeln sich wie in einem Brennglas die größten anzunehmenden Verbrechen des 20. Jahrhunderts.”
Dazu kommt eine Körperkult-Ästhetik, bei der die Übergänge fließend sind von Leni Riefenstahls lichtumflossenen Heldenbildern aus dem Dritten Reich und der selbstverliebten Verzückung beim wummernden Viervierteltakt der Berliner Love Parade. Von Kraft durch Freude zur Freude durch Kraft. Als Glatzen-Pop auf der Bühne, als Mode-Gag in der Disco und als Soap-Opera auf dem Bildschirm haben die Accessoires der SS-Herrenmenschennoch einmal Karriere gemacht.
Zur Entwirklichung der Gegenwart tragen solche Trends mehr bei als zur Verherrlichung der Vergangenheit. Mit hektischer Beschleunigung wechseln Szenen eines futuristischen Heute mit Bildern vergangener Zeitläufte. Aus Zufälligkeiten und Willkür entsteht ein Anschein von historischer Gleichzeitigkeit. Die Folge ist eine ungemein hektische Statik, ein aggressiver Stau, künstlerisch reizvoll, politisch quälend. Man könnte ihn als das Lebensgefühl jener umstrittenen Berliner Republik bezeichnen, die es bisher womöglich nur als ebendieses Gefühl gibt.
So fragmentiert erscheint die Gegenwart, so ziellos ist der öffentliche Diskurs, dass sich nicht einmal in Umrissen ein vorhersehbares Modell Deutschland abzeichnet. Zukunft?
„Zukünfte“, diverse, alle vage, alle nur Verlängerungen verschiedener Spielarten des Hier und Jetzt. Nicht von ungefähr hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau auf dem deutschen Historikerkongress 2002 den Philosophen Ludwig Marcuse mit der banalen Weisheit zitiert: „Was in der Gegenwart geschieht, erfährt man in der Regel erst eine ganze Weile später von den Historikern.“
Der Mann, der sich in den Schatten seines breitrandigen Huts zurückzuziehen sucht, um seine Verstörung zu verbergen, fröstelt in der Kälte. Er steht unter der zynischen Inschrift „Arbeit macht frei" inmitten frierender alter Männer am Tor des Todeslagers von Auschwitz. Schnee hat sich auf ihn gelegt. Deutlicher als in diesem Augenblick kann Horst Köhler vorher nicht gespürt haben, dass es noch immer eine vertrackte Ehre ist, Präsident der Bundesrepublik Deutschland zu sein.
Es ist der 27. Januar 2005. Vor 100 Jahren hätten die Deutschen an diesem Tag den Geburtstag seiner Majestät, des Kaisers Wilhelm II., gefeiert. Jetzt werden sie mit der Erinnerung an den Tag konfrontiert, an dem vor 60 Jahren die Rote Armee 7650 Überlebende des Lagers befreite, die nicht mehr gemordet oder auf den Todesmarsch geschickt worden waren, 7650 von mindestens 1,1 Millionen. Die Hälfte von ihnen starb noch in den folgenden Wochen.
1995, am 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, war Roman Herzog als erster deutscher Präsident zu den Feierlichkeiten geladen worden. „Dies ist ein Ort der Trauer und des Gedenkens“, hatte er vor den Krematorien des Vernichtungslagers gesagt.
Die Begriffe, mit denen in Auschwitz der planvollen Ausrottung von sechs Millionen Juden durch das Deutschland Adolf Hitlers gedacht wurde, haben sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert: Zivilisationsbruch. Menschheitsverbrechen. Völkermord. Schuld und Scham. Und trotzdem klang anders, was Horst Köhler anschließend ins Fernsehmikrofon sagte: „Wir Deutschen im Besonderen müssen uns darum kümmern, dass nicht wieder hochkommt, was mal zu diesen Verbrechen geführt hat.“
Wir Deutschen im Besonderen ... Das hörte sich nicht länger so an, als wären wir eine auf ewig gezeichnete Nation, als müssten sich die Nachfahren Hitler-Deutschlands als einzigartige Monster fühlen. Gewiss, in seiner Rede vor dem israelischen Parlament bekräftigte Köhler später, dass auch für die Generationen, die nach dem Krieg geboren sind, „die Jahre der Nazi-Herrschaft ein nie auslöschbarer Teil der deutschen Geschichte“ seien.
Aber die Mahnung zur Bewahrung der Erinnerung gilt nicht mehr nur für die Enkel und Urenkel der Täter. Auschwitz ist -von der Uno und im Europäischen Parlament bekräftigt - zu einer globalen Chiffre für Völkermord geworden. Die Shoa – so das hebräische Wort für den Versuch der Nazis, Völkermord planmäßig zu begehen – befleckt für immer die Geschichte der Menschheit. Der zeitliche Abstand und die weltweite multimediale Präsentation haben den Holocaust in eine universal gültige moralische Erzählung über die fortwährende Präsenz des Bösen verwandelt.
Bis „Auschwitz“ zur Signatur des 20. Jahrhunderts wurde, war es ein weiter Weg. Mit dem Vorsatz „Nie wieder“ hatten sich 1949 beide deutschen Nachkriegsstaaten etabliert. Doch erst Mitte der achtziger Jahre erreichte Auschwitz den Status eines negativen Gründungsmythos der Bundesrepublik, wurde Bestandteil unserer Identität, wie Bundespräsident Köhler zu Jahresbeginn in Israel bekräftigte.
Es war eben zunächst nicht weit her mit der Umerziehung der Deutschen. Nach dem ersten Erschrecken über die Horrorbilder, die aus den Konzentrationslagern kamen, sorgten der Kampf ums eigene Überleben und die Bedrohungen des Kalten Krieges für willkommene Gelegenheiten zur Verdrängung. Für die schnelle Einbindung ins westliche Lager bedankten sich die Westdeutschen mit Loyalitätsbezeugungen als demokratische Musterschüler, die Ostdeutschen verschwanden völlig in der Umarmung des großen Moskauer Bruders.
Die Nazi-Gräuel erschienen als eine überwundene Krankheit, die im Westen Hitler und ein paar Oberschurken, im Osten dem verbrecherischen Monopolkapitalismus angelastet wurden. Selbst die wissenschaftliche Aufarbeitung des gern als „unvorstellbar“ charakterisierten Genozids an den Juden war in den ersten drei Jahrzehnten tastend und unsicher.
In den Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung geriet der Mord an den europäischen Juden erst mit großer Verzögerung. Gewiss, durch den 1963 beginnenden Frankfurter Auschwitz-Prozess und die 68er Revolte gegen die Väter begann in der Bundesrepublik die Diskussion über das Selbstverständnis der Deutschen vor dem Hintergrund der Nazi-Zeit sowohl emotionaler als auch kenntnisreicher zu werden. Willy Brandt - der von den Nazis verfolgte, nach Norwegen emigrierte kämpferische Antifaschist – setzte 1970 als Bundeskanzler mit seinem überraschenden Kniefall vor dem Monument des Ghetto-Aufstands in Warschau stellvertretend für sein Volk ein symbolisches Zeichen, dass die Deutschen Schuld und Versagen anerkennen.
Aber erst mit der 1979 ausgestrahlten amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ erreichte Auschwitz den Gefühlsbereich einer breiten Öffentlichkeit. Und noch einmal in ein neues Stadium trat die Gedächtnis- und Identitätsgeschichte der Westdeutschen in den achtziger Jahren mit dem Historikerstreit um die Singularität des Völkermords an den Juden, der mit erregter öffentlicher Aufmerksamkeit ablief. Während rechte Historiker wie Ernst Nolte das Geschehen relativieren wollten, um so etwas wie eine nationale Normalität für die Deutschen zu ermöglichen, machte Auschwitz für linke Intellektuelle wie Günter Grass die Rückkehr in die Nation für immer unmöglich: „Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen Einheitsstaat aus.“
Diese Debatte erledigte 1989 der Fall der Mauer. Aber ein wirklich neues Geschichtsgefühl, ein neuer Ton im Umgang mit Vergangenheit begann sich erst zu etablieren, als 1998 mit Helmut Kohl und seiner Ministerriege die Politikergeneration abtrat, die den Krieg und den Untergang der Nazis noch persönlich miterlebt hatte.
Leicht fiel ihren Nachfolgern die neue Normalität nicht. Gespenstisch fahl wirkte Bundeskanzler Schröder am 24. März 1999 – brüchig die Stimme, todernst die Miene –, als er sich aus einem Berliner Hotel an die Fernsehnation wandte: „Ich rufe von dieser Stelle aus alle Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, in dieser Stunde zu unseren Soldaten zu stehen.“ Plötzlich schienen alle alten Gespenster des zu Ende gehenden deutschen Jahrhunderts in der alten Reichshauptstadt wieder aufzutauchen: Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligten sich deutsche Kampfflugzeuge an Bombenangriffen auf einen anderen Staat. 14 Bundeswehr-Tornados waren beim Einsatz der Nato gegen Jugoslawien dabei.
Wie Kanzler Gerhard Schröder, damals 54, Außenminister Joschka Fischer, 50, und Verteidigungsminister Rudolf Scharping, 51, war die ganze Generation, die ab 1998 die Berliner Republik regierte, mit dem „Peace“-Zeichen in die Politik hineingewachsen, nur Scharping war ein halbes Jahr Soldat gewesen. Groß geworden in der Rebellion gegen ihre Eltern und deren Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, hatten sie mit den Traditionen des deutschen
Militarismus radikal gebrochen. Jetzt beendeten ausgerechnet sie, als rotgrüne Bundesregierung, das Tabu, das seit 1949 Gültigkeit besessen hatte: Nie wieder Krieg!
Mit dem Fall der Mauer 1989 hatten sich die beiden deutschen Nachkriegsstaaten selbst historisiert. Nur noch einmal – beim Golfkrieg 1991 – war das nun vereinte Deutschland mit seiner „Nie wieder“-Argumentation um eine militärische Beteiligung herumgekommen. Nach der Zuspitzung des Bürgerkriegs im Kosovo hielt es dann 1999 die Bundesregierung für unmöglich, sich der Teilnahme an Nato-Militäraktionen zu entziehen. Der Grüne Joschka Fischer begründete seine Zustimmung mit den Worten: „Nie wieder Auschwitz heißt heute ‚Wehret den Anfängen’. Gemeinsam mit ‚Nie wieder Krieg’ sind dies die drei konstitutiven Prinzipien meiner politischen Biografie.“
Nicht nur die Außen-, auch die Geschichtspolitik Deutschlands nahm fortan eine andere Richtung. Im Januar 2000 trat Bundeskanzler Gerhard Schröder im Festsaal des Stockholmer Folkets Hus feierlich an ein Podium und gelobte vor dem schwedisehen Königspaar, 19 anderen Regierungschefs sowie Parlamentariern, Pädagogen, Historikern und ehemaligen KZ-Häftlingen aus 47 Ländern: „Einen Schlussstrich unter die deutsche Geschichte kann niemand ziehen, und die überwältigende Mehrheit der Deutschen will das auch nicht.“ Es war ein hoch symbolischer Augenblick. Im feierlich gedämmten violetten Licht und in der quasireligiösen Weihestimmung der Versammlung wirkte es wie das Aufnahmeritual in eine internationale Bruderschaft wider das Vergessen, als der schwedische Ministerpräsident Göran Persson, der zu diesem beispiellosen Holocaust-Forum eingeladen hatte, dem Deutschen danach demonstrativ innig die Hand drückte.
Schröder hat es auch so empfunden. Auschwitz, so hieß die Botschaft von Stockholm, sollte nicht nur Chiffre für die Nazi-Verbrechen sein, sondern mit seiner Verpflichtung auf das Erinnern auch ein Identitätsangebot für alle Europäer.
Das Holocaust-Mahnmal, ein gewaltiges Feld von 2700 grauen Betonquadern im Zentrum von Berlin, das die Deutschen immer an Auschwitz erinnern soll und dessen Bau Schröder damals in Stockholm ankündigte, wird jetzt, 60 Jahre nach dem Untergang des Hitler-Reichs, feierlich eröffnet.
Es konnte kein Denkmal werden, „wo man gern hingeht“, wie der Kanzler einmal etwas flapsig gesagt hat. Aber es ist ein Monument geworden, an dem man nicht leicht vorbeikommt. Den Blick auf die Welt verstellt es nicht.
Am 13. Februar 1945 war Dresden untergegangen, am 23. Februar desselben Jahres Pforzheim. Im Bombenhagel und Feuersturm verendeten, erstickten und verbrannten etwa 35000 Menschen in der Kulturmetropole an der Elbe und 17000 in der Industriestadt an der Würm. 60 Jahre später reihten sich 5000 Pforzheimer im Gedenken an das Inferno zu einer Lichterkette auf, und in Dresden versammelten sich 50000 Überlebende sowie deren Kinder und Enkel mit Kerzen zur Erinnerung an das Grauen des Luftkriegs. „Unmenschlich“ nannte der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Bombardierung Dresdens.
Sehen sich die Deutschen plötzlich nur noch als Leidensgemeinschaft? Ist das Tätervolk zum Opfervolk geworden?
Die Bewohner der beiden geschundenen Städte sind längst viel weiter. Buße, Vergebung, Versöhnung, Frieden - diese vier Schritte seien zur Heilung der Wunden nötig, sagte John Petty, der frühere Propst der von der deutschen Luftwaffe bombardierten Stadt Coventry, bei den Trauerfeiern im Pforzheim. An beiden Orten hatten die Rechtsradikalen mit ihren Provokationen keine Chance.
„Bomben-Holocaust“ nannten die Abgeordneten der rechtsextremen NPD im sächsischen Landtag den Angriff - ein kalkulierter Affront gegen das Gedenken an den Genozid in Auschwitz, dem sie sich demonstrativ verweigerten. Doch die Antwort der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung fiel eindeutig aus. „Diese Stadt hat die Nazis satt“, leuchtete ein aus Kerzen geformter Schriftzug am Altmarkt. Und Oberbürgermeister In-golf Roßberg sagte: „Die Feuerfackel haben die Nazis in die Länder Europas geworfen, bevor sie auf uns zurückfiel.“
Die Rituale der Trauer und der Versöhnung haben in Dresden wie auch in Pforzheim inzwischen rund ein halbes Jahrhundert Tradition. Die Forderung des Bundeskanzlers, „Untat und Leid nicht gegeneinander aufzuwiegen“, ist hier längst erfüllt. Und so konnte Klaus von Dohnanyi, SPD-Politiker und Sohn eines von den Nazi-Schergen hingerichteten Widerstandskämpfers, am 60. Gedenktag – mit Blick auf die radikalen Rechten – fordern: „Etwas mehr Selbstbewusstsein täte uns gut; deutsche Geschichte besteht nicht nur aus Nazis. Man muss sagen dürfen, dass die Zerstörung Dresdens ein Verbrechen war. Wir dürfen aus Angst vor Beifall von der falschen Seite die Wahrheit nicht verschweigen.“
Er kann mit der Zustimmung vor allem der jüngeren Deutschen rechnen, die sich frei fühlen von jeder persönlichen Schuld. Die „Pforzheimer Zeitung“ hat 60 Teilnehmer der inzwischen ritualisierten Lichterkette aus ihrer symbolhaften Anonymität befreit und sie – in individuellen Einzelfotos – auf ihren Lokalseiten abgebildet. Sie scheinen die zentrale Botschaft der Deutschen 60 Jahre nach Kriegsende zu verkörpern: Erinnerung statt Erfahrung, Versöhnung statt Aufrechnung, persönliches Schicksal statt kollektiver Geschichte.
Ist das nun die vielbeschworene Bewältigung der Vergangenheit? „Es gibt keine Bewältigung“, schrieb der Schriftsteller und Richter Bernhard Schlink in einem SPIEGEL-Essay, „aber es gibt das bewusste Leben mit dem, was die Vergangenheit gegenwärtig an Fragen und Emotionen auslöst.“ Was könnte denn ein Deutscher, ein später geborener, auch mehr tun, als sich den Tatsachen zu stellen, das Entsetzen zu spüren und die Hilflosigkeit auszuhalten? Und natürlich kann er sich vornehmen, nach besten Kräften dafür zu sorgen, dass sich das Schreckliche niemals und nirgends wiederholt.
Nur, dass es 60 Jahre nach Kriegsende noch immer nicht einfach zu sein scheint, sich den weitgehend bekannten Fakten zu stellen. Im Gästebuch zur Holocaust-Ausstellung 2002 im Berliner Historischen Museum fand der damalige Museumspädagoge Hilmar Sack die Eintragung einer Schülerin aus einer 9. Klasse – also etwa 15 Jahre alt. Sie schrieb: „Ich finde nicht schön, dass Hitler die Juden umgebracht hat. Jeder von ihnen verdient unser Mitleid.“ Ein anderer hatte dahinter gekontert: „Wieso Hitler? Dein Opa!“ Opa ist tot. Die meisten Mörder sind nicht mehr unter uns, die Mitläufer, die Minderbelasteten. Damit scheint eine Blockade des Schweigens durchbrochen, die jahrzehntelang die Auseinandersetzung über die Vergangenheit in vielen deutschen Familien und in der Gesellschaft gelähmt hat. Jetzt finden die Opfer und ihre Angehörigen Gehör, Opfer nicht nur der Nazis, sondern des Krieges generell – die Überlebenden des Bombenterrors, der Vertreibung, von Siegerwillkür.
Die Geschichte offenbart sich in Geschichten. Schon vor zehn Jahren, bei den Feiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, zeichnete sich ab, was inzwischen allgemeiner Trend geworden ist – die Menschen Europas, nicht nur die Deutschen, wollen von ihren Leidenserfahrungen erzählen.
Damals war es ausgerechnet der todkranke, staatsstarre französische Präsident François Mitterrand, der mit bewegender Rede und persönlichen Bekenntnissen dafür sorgte, dass die Serie staatlicher Gedenkveranstaltungen nicht zur hohlen Geste erkaltete. Mitterrand legte in Berlin sein Manuskript zur Seite und begann einfach zu erzählen. „Ich bin nicht gekommen, um einen Sieg zu feiern“, sagte der damals 78-jährige Staatsmann, der noch Splitter deutscher Granaten im Leib trug. „Ich möchte Zeugnis ablegen.“
In schlichter Sprache, intensiv und oft fast poetisch, brachte Mitterrand seine Erfahrungen als Soldat und Kriegsgefangener auf die Formel von den „Erbfeinden“, die 1000 Jahre brauchten, um zu erkennen, dass sie Brüder sind. Europa ist ihr gemeinsames Zuhause: „Morgen muss das begonnene Werk vollendet werden.“
Die intensive persönliche Bewegung der Beteiligten prägte alle Wortmeldungen. Königin Elizabeth von England erzählte Kriegserlebnisse, der israelische Präsident Eser Weizman, Großherzog Jean von Luxemburg. Der britische Premierminister John Major schilderte, wie seine Familie, als er erst wenige Monate alt war, nur knapp dem Einschlag einer V-2-Rakete entronnen war.
Der große Krieg, das zeichnete sich bereits damals ab, ist das große europäische Epos der Neuzeit. „Auf ganz Europa lastet das Kainszeichen“, sagte der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski, Häftling im damaligen KZ Sachsenhausen. „Niemand von uns ist ganz ohne Schuld angesichts dessen, was damals, in den Jahren des Krieges gegen Hitler, mit den Menschen geschehen war.“
Meinungsbefrager wollten damals wissen, dass in Deutschland die Kriegszeit als Thema in der dritten Generation verblasst sei. Aber inzwischen lässt eine Flut von Büchern, Filmen, Interviews und Lebensgeschichten besonders in Deutschland erkennen, dass im familiären Gespräch, im Austausch unter Freunden und in privaten Begegnungen mehr Vergangenheit „bewältigt“ worden ist, als im politischen Alltag sichtbar wurde. Die Jahrestage verstärken den Trend. Die Feindseligkeit, ja, der Hass des Generationskonflikts der Nachkriegszeit, der sich 1968 entlud, ist heute verschwunden. Dafür wird erkennbar, dass durch die emotional aufgeladenen politischen Auseinandersetzungen zwischen Vätern, Söhnen und Enkeln in beiden deutschen Nachkriegsstaaten ein Prozess des kollektiven politischen Lernens in Gang gekommen ist, dessen Ergebnisse das historische Unterfutter der Berliner Republik bilden.
„Wer wir sind, als wen wir uns selbst sehen, das hängt immer auch von der Erzählung darüber ab, wer wir waren – und wie es gekommen ist, dass wir so geworden sind, wie wir sind“, hat Bundespräsident Johannes Rau 2002 gesagt. Das klang – ein Dutzend Jahre nach der Vereinigung – noch wie eine Klage über einen unbefriedigend unfertigen Zustand. Knapp zwei Jahre später konstatiert Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier: „Es scheint, als würde eine Debatte über Deutschland und ,deutsch sein’ nachgeholt, die nach 1989 nicht geführt wurde.“
Wenn heute 60-Jährige über das in der Kindheit Erlebte schreiben oder über das von Eltern und Großeltern Erzählte reflektieren, sei das „ein völlig neuer Aggregatzustand von Erinnerung“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die über den Umgang mit deutscher Vergangenheit in den Familien geforscht hat: „Das ist der Versuch, den Generationendialog, den es nicht gab, zeitverschoben in ein Selbstgespräch zu transformieren.“ Noch immer erscheint es vielen nur schwer möglich, sich zu den Tätern in ein historisches Verhältnis zu setzen, das ein identitätscharakterisierendes „Wir“ erlaubt. Auf vielfältige Weise wirkt so noch immer die in Jahrzehnten eingeschliffene Gewohnheit nach, die deutsche Schuld an den Nazi-Verbrechen als Aufforderung zur Distanzierung vom eigenen Land und seiner Geschichte zu betrachten. Es galt als progressiv, sich als Weltbürger zu gebärden – die Deutschen, das waren die anderen.
Es war der jeglicher Art von Nationalismus unverdächtige Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der in den sechziger Jahren aus Leipzig in den Westen vertrieben worden war, der die Deutschen warnte vor der „Verachtung der eigenen Herkunft, Landschaft und Überlieferung“. Er hielt diese „entschiedene Geschichtsfeindlichkeit“ für „eigentümlich deutsch“. Tatsächlich nahm vor 1989 die Flucht vieler junger Deutscher in einen moralisierenden Individualismus oder Internationalismus Züge eines negativen Nationalismus an: Die Leidenschaft, mit der wir nicht Deutsche sind, die macht uns keiner nach in der Welt.
Eine Folge dieser Lossagung von der deutschen Geschichte und der Zugehörigkeit zur deutschen Nation ist bis heute die Überlagerung politischen und geschichtlichen Denkens durch ein nahezu grenzenloses Vertrauen in ökonomische Erfolge. Schon in der alten Bundesrepublik entdeckte die Soziologin Helge Pross 1982 eine Selbstbezogenheit der Bürger, die keinen Raum ließ für Ideen über das private Glück und die persönlichen Interessen hinaus. Und anders als in anderen Ländern hielt keine nationale Identität als übergeordnete, sinngebende Einheit diese Tendenzen in Schach. Der „Verfassungspatriotismus“, der die Gesellschaft allein durch gesetztes Recht zusammenhalten sollte, konnte die kulturelle und emotionale Lücke nicht wirklich füllen.
In der dritten Nachkriegsgeneration – das ergaben die Studien des Essener Sozialpsychologen Harald Welzer – hat das offizielle Bewusstsein ziemlich verlässlich die aufklärerische Botschaft in die privaten Überzeugungen verankert, dass der Holocaust das grauenhafteste Verbrechen der Menschheitsgeschichte war. Mögen manche auch noch – gegen ihre generelle Einsicht – hartnäckig an der die eigene Familie entlastenden Behauptung festhalten: „Opa war kein Nazi“, die Welzer als Titelzeile auf sein vielbeachtetes Buch geschrieben hat, grundsätzlich werden die negativen Aspekte der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht länger abgespalten, sondern die eigene Identität lädt sich mit Ambivalenz auf.
Ob der Nationalstaat noch – oder wieder – in der Lage sein wird, den jungen Deutschen jene Gefühlsbindung an Gebräuche, Rituale und Zeremonien zu liefern, die offenbar auch in der globalen Welt für den Einzelnen als Halt und Orientierung unverzichtbar ist, erscheint noch nicht entschieden. Sowohl ein demokratisches, weltoffenes, postchauvinistisches Deutschland als auch ein postnationales Europa, das sich auf die Gemeinsamkeit seiner kulturellen Traditionen gründet, erscheinen vielen attraktiv.
Richard von Weizsäcker mag das eine vom anderen nicht mehr trennen. Für den Ex-Präsidenten ist Deutschland endlich in einer „ersprießlichen“ und für seine Nachbarn erträglichen Weise bei sich selbst angekommen – „nämlich in Europa“. Die deutsche Frage sei eben nicht allein durch die Vereinigung beantwortet worden, sagt er, sondern auch durch den 1. Mai 2004 – den Tag, an dem die Europäische Union zehn neue Länder aus Süd- und Osteuropa aufnahm. „Die Generation meines Enkels wird sehr viel leichter als wir begreifen, dass wir unsere Identität und unsere Aufgaben nicht mehr allein im nationalen Rahmen suchen können.“ Schon jetzt leben Bundespräsident Köhler, Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer diese neue deutsche Form von Normalität nicht immer ganz unfallfrei, aber erstaunlich selbstverständlich vor. Sie handeln damit ganz im Sinne der ihnen folgenden Generation, wie der Regisseur Marc Rolhemund, 36, im Februar 2005 auf der Berlinale deutlich machte.
Gefragt, ob sein Film „Sophie Scholl - die letzten Tage“ über die studentische Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ Teil einer neuen deutschen Nazi-Filmwelle sei, sagte er: „Meine Generation ist unbefangen: Unser Blick auf die Zeit vor 60 Jahren ist ein freier, kein schuldhafter. Er muss sich nicht rechtfertigen... Aber wir haben die Verantwortung, das Verbrechen im Bewusstsein zu halten.“
(Leinemann, 2005)

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