8. Aufgabe
A/
Bearbeiten Sie den folgenden Artikel, der im Vergleich zu den anderen relativ
lang, inhaltlich und auch sprachlich sehr anspruchsvoll ist, eher zu Hause.
Überfliegen Sie zuerst den Text, und notieren Sie bei den Textteilen, worum es
geht. Wenn Sie etwas nicht verstehen, greifen Sie zu einem einsprachigen
Wörterbuch, und schreiben Sie die Wörter mit der deutschen Erklärung auf. Am
Ende Ihrer Wörterbucharbeit empfehlen wir Ihnen, die aufgeschriebenen Wörter
nach deren Bedeutung zu gruppieren.
B/ Suchen
Sie im Text Passagen, die sich auf das Demokratieverständnis der Deutschen
beziehen! Was war für Sie diesbezüglich neu?
C/ Welche
Parteien, Politiker werden in dem Artikel genannt? In welchem Zusammenhang?
Formulieren Sie für sich in einigen Sätzen, was der Artikel an Wissen,
Kenntnissen, Einstellungen usw. gebracht hat!
Eine Nation auf der Suche
Lange definierten sich die Deutschen
über die Schrecken der NS-Verbrechen und verachteten nationale Gefühle. Jetzt,
60 Jahre nach Kriegsende, verlieren sie langsam die Angst vor sich selbst. Doch
noch fehlt der deutschen Gesellschaft ein tragfähiger Zukunftsentwurf.
Von Jürgen Leinemann
Paris, am 8. Mai 1995. Mit schweren, gravitätischen Schritten
paradierte der französische Staatspräsident François Mitterand über den weiten
Platz am Arc de Triomphe, gefolgt von einer halben Hundertschaft von Königen,
Präsidenten, Regierungschefs und Staatsmännern Europas. Alle waren fast
automatisch in den schleppend zeremoniellen Gang verfallen, den der Franzose
vorgab – eine quasimilitärische Ehrenformation auf dem Weg zur ewigen Flamme am
Grabmal des Unbekannten Soldaten. Nur am hinteren rechten Rand der feierlichen
Prozession schlurften zwei gewichtige, durch und durch zivilistische Figuren
irgendwie außer Takt nebenher, habituell unfähig zum Gleichschritt, aber davon
nicht peinlich berührt: Roman Herzog, Präsident, und Helmut Kohl, Kanzler der
Bundesrepublik Deutschland, beide ungedient.
Spätestens da, auf den
Tag genau 50 Jahre nach der Kapitulation der Nazi-Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg,
hätten die Siegermächte ihren Erziehungsauftrag für die geschlagenen
Überlebenden des Großdeutschen Reichs als erledigt betrachten können. Denn
überzeugender als Herzog und Kohl, die beiden staatsmännischen Repräsentanten
der wiedervereinigten Bundesrepublik, hätte nichts und niemand den vollständigen
Vollzug von Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung verkörpern
können. Der Abschied von Drill und Stechschritt war gelungen. Die beiden Herren
symbolisierten ein Deutschland, das niemandem Angst machte.
Das war wohl der positivste Teil der Bilanz der letzten politischen Generation,
die noch persönliche Erinnerungen an das „Dritte Reich” Adolf Hitlers hatte –
die Furcht vor einem Wiedererwachen des deutschen Militarismus, vor dem Geist
Preußens und einer dunklen Sehnsucht nach Heroismus haben sie bei all ihren
Nachbarn beseitigt. In der Phase nach der deutschen Vereinigung war das gewiss
kein geringes Verdienst. Deshalb waren die Regierenden der vereinigten
Bundesrepublik dabei, in London, Paris, Berlin und Moskau, als die europäischen
Siegermächte des Zweiten Weltkriegs den 50. Jahrestag ihres Siegs feierten.
Es bedurfte aber noch eines weiteren Jahrzehnts – einer neuen Generation an der
Regierung, des Umzugs in eine neue Hauptstadt und einer radikal veränderten
weltpolitischen Situation –, bis auch die Deutschen selbst, ohne ihre
Vergangenheit zu verdrängen, die Angst vor sich zu verlieren begannen. Kein
öffentliches Gemurre folgte dem bis dahin unerhörten Bekenntnis des 2004
gewählten Bundespräsidenten Horst Köhler, Jahrgang 1943, als er nach seiner Wahl
verkündete: „Ich liebe unser Land.”
Schon im Frühjahr 2001 hatte die „New York Times” nach einem Besuch von
Bundeskanzler Gerhard Schröder, Kriegsjahrgang 1944, „eine neue Unabhängigkeit”
der deutschen Politik registriert. Nach kontroversen Gesprächen mit Präsident
George W. Bush im Weißen Haus befand der deutsche Regierungschef damals kühl:
”Die Vorstellung, wir würden hier die Hacken zusammenschlagen, war falsch.”
Fortan bewegte sich der SPD-Bundeskanzler – ohne sich dafür zu rechtfertigen,
aber auch ohne „die moralische und politische Verantwortung für das, was wir
getan und unterlassen haben”, von sich zu weisen – als Regierungschef mit
ähnlich pragmatischem Selbstbewusstsein auf der internationalen Bühne wie seine
Kollegen Jacques Chirac, Tony Blair und Wladimir Putin. Schröder: „Wir sollten
uns nicht kleiner machen, als wir sind.” Die Einladung des französischen
Staatspräsidenten im vergangenen Jahr, an den Jubiläumsfeierlichkeiten zur
alliierten Landung in der Normandie teilzunehmen, war eine willkommene Geste für
eine Generation von Deutschen, die an das Dritte Reich keine persönliche
Erinnerung mehr hat. Der Kanzler empfand sie als bestätigendes Signal: „Die
Nachkriegszeit ist zu Ende.”
Nicht, dass damit die Vergangenheit plötzlich für immer vergangen wäre. Im
Gegenteil – mehr noch als einst in Bonn leben die Deutschen und ihre politischen
Repräsentanten in Berlin mit den allgegenwärtigen Erinnerungen an die
Hitler-Barbarei. Doch als identitätsstiftendes Moment, als negative Folie für
das nationale Selbstverständnis wird Adolf Hitler kaum noch benutzt. Das Trauma
ist vertraut, die moralische Last akzeptiert. Nun kommen auch die eigenen Leiden
in den Blick – die Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung.
Epochenbruch. Klimawechsel. Zäsur. Vorbei die Zeit, als Bonn sich in einer
taktischen Zwergenrolle auf der internationalen politischen Bühne versteckte, zu
Ende ist freilich auch der selbstgefällige Auftritt des wirtschaftlichen Riesen
Deutschland. Das 60. Jahr nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reichs begann mit den
höchsten Arbeitslosenzahlen seit dem Ende der Weimarer Republik – über 5
Millionen im Januar 2005, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement rechnete noch 1,5
Millionen aus staatlich subventionierten Arbeitsbeschaffungs- oder
Qualifizierungsprogrammen hinzu – damit wären mehr Deutsche ohne Job als 1932,
in dem Jahr vor Hitlers Machtübernahme. Seit Jahren stagnieren Reallöhne und
Renten, die Sozialleistungen werden beschnitten, das Wirtschaftswachstum ist
kärglich, die Zahl der Pleiten beängstigend. Dem „Deutschland des Mehr” dämmere
schmerzhaft die Erfahrung, sich in eine „Gesellschaft des Weniger” zu verwandeln,
konstatiert der Soziologe Ulrich Beck.
Hält die von Kanzler Schröder vollmundig gepriesene „ungeheuer stabile
gefestigte Demokratie” das aus? Wirtschaftswunder und Wohlstand galten als Basis
der intakten Bonner Republik. Und in der DDR hatten Arbeitsplatzgarantien und
egalitäre Praktiken ein beruhigendes Lebensgefühl verschafft. Beides suggerierte
Sicherheit in einem Land, in dem keine intakten Traditionen und kollektiven
Verbindlichkeiten die zahllosen politischen und kulturellen Streitpunkte der
innerlich zerrissenen und verwundeten Deutschen eindämmten.
Entsprechend idyllisch und friedfertig klingt das Vokabular, mit dem die Bürger
der beiden verblichenen deutschen Nachkriegsstaaten ihre gute alte Zeit
beschreiben. Gemeinschaftsgefühl, Familiensinn und menschliche Wärme sind
Begriffe, die sich vielen Ostdeutschen aus der Erinnerung aufdrängen. Stabilität,
Konsens und innerer Friede waren Schlüsselworte der alten Bundesrepublik, die in
der Tat – wie Helmut Kohl moniert hatte – eine Art Freizeitpark war, voller
guter Menschen mit den höchsten Löhnen und den längsten Urlaubszeiten. Mag
Nostalgie auch den Blick auf die lauen Wohnen des goldenen Westens und die
kuschelige Nischenwelt des menschelnden Ostens verklären – dass es rauer, lieb-
und hoffnungsloser zugeht in der Berliner Republik, steht außer Frage. Die
Gegensätze sind schroff, der Umgangston ist rüde, und was sich wie Toleranz
gebärdet, ist oft teilnahmslose Egomanie. Gier ist geil.
Ist das die Stunde der Neonazis? Haben rechtsextreme Parteien in Deutschland
wieder eine Chance? Seit die NPD nach einem spektakulären Wahlerfolg (9,2%) in
den sächsischen Landtag einrückte und dort mit provozierender Dreistigkeit
fremdenfeindliche und geschichtsrevisionistische Politik betreibt, geben sich
die demokratischen Parteien wieder höchst alarmiert. Ihre bisher gescheiterten
Versuche, die NPD als verfassungswidrig zu verbieten, stehen indes in einem
befremdlichen Kontrast zum fehlenden Engagement, vor allem in den neuen Ländern
– aber nicht nur da –, das Recht gegen glatzköpfige Gewalttäter durchzusetzen.
Ausländer und links engagierte Jugendliche leben in vielen ländlichen Gebieten
in permanenter Gefahr.
Vor diesem Hintergrund
wirken die verbalen Bekundungen der Demokraten gegen den Rechtsextremismus
bisweilen wie ein Alibi, um zu vertuschen, dass sie über keine tragende Idee für
das Gemeinwohl der Bürger verfügen. Innenminister Otto Schily will es scheinen,
als ob plötzlich unter der Tünche des frischgestrichenen Hauses der Deutschen
alte Bilder wieder aufscheinen.
Aber sind es wirklich Dämonen, die da zum Vorschein kommen, wie Michael Friedman
warnt, Nachwuchs einer neuen alten Bewegung vom mörderischen Rassisten und
Antisemiten? Oder spielen sich bloß Bewunderer von lächerlichen Figuren auf, wie
Henryk M. Broder glaubt, von „komischen aufgeblasenen Wichteln”, die man
weglachen muss? Sind Neonazi-Aufmärsche Metastasen der brauen Vergangenheit,
oder nutzen provokante Revoluzzer der Gegenwart die Schockwirkung der
Hitler-Barbaren für effekthascherischen Krawall?
Bonn war nicht Weimar, Berlin ist es auch nicht. Alle Vergleiche des heutigen
Deutschlands mit der Zeit vor Hitlers Machtübernahme sind schiere Panikmache. „Die
Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit haben dazu geführt, dass der
Rechtsextremismus hierzulande stärker stigmatisiert ist als in jedem anderen
europäischen Land”, glaubt der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker. „Dies
gilt sowohl in rechtlicher als auch in sozialer Hinsicht.” Gewiss erleiden viele
Jugendliche derzeit die reale Erfahrung, dass die Gesellschaft für sie weder
Interesse noch Verwendung hat. In dieser Situation werden Bilder, Parolen,
Phantasien und Mythen einer angeblich großdeutschen Vergangenheit reaktivierbar.
Doch immer – da sind sich Historiker und Betreuer von lokalen
Anti-Nazi-Initiativen einig – ist das konkrete Erleben der Ausgrenzung wichtiger
als die Ideologie.
Handlungsbedarf besteht
allerdings durchaus. Denn die Gewalt ist real. Und wie in anderen europäischen
Republiken ist auch im wiedervereinigten Deutschland ein beträchtlicher
Bodensatz rassistischer und vor allem ausländerfeindlicher Ressentiments
unbestreitbar.
Doch mit öffentlicher Bekundung von Abscheu und Empörung, mit wohlfeilen Worten
und gelegentlichen symbolischen „Aufständen der Anständigen” ist es nicht getan.
Daran mangelt es ja nicht. Aber ein verheißungsvoller Zukunftsentwurf
demokratischer Politiker wäre gewiss wirkungsvoller als juristische Expertisen.
Wie nach 1949, nach 1969 und 1989 wäre es Zeit für ein neues Modell Deutschland
– weniger für die Welt als für den Hausgebrauch.
Doch das ist bisher
nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. Stattdessen überall Fragen, nirgendwo
Antworten, wenigstens keine, die qualitativ Neues erahnen lassen. Eine ziellose
Gesellschaft dümpelt orientierungslos dahin. Eine große allgemeine Ratlosigkeit
über langfristige Ziele wird überdeckt durch hysterische Debatten um
Kleinigkeiten. Modernisierung? Mobile Gesellschaft? Globalisierung? Das Neue
erscheint vielen vorwiegend als Verlust.
Berlin ist ein symbolischer Spiegel der Situation. Es ist alles nebeneinander da
in der alten Hauptstadt der neuen Republik – Isolation und Lebensnähe,
Geschichte und Zukunft, Stillstand und Dynamik, Ost und West. Seit die Konturen
der beiden deutschen Staaten sich aufzulösen begannen, hat eine Bilderflut der
Medien das Gewohnte und Bewährte überschwemmt.
Dass sich der Rechtsextremismus und die Erinnerung an die Hitlerei so
aufdringlich sichtbar präsentieren wie noch nie seit dem Ende der Nazi-Zeit, hat
damit zu tun. Propagandaminister Joseph Goebbels hatte dafür gesorgt, dass das
Nazi-Regime sich in üppiger Bilderfülle präsentierte. Dieser Fundus ergießt sich
nun – verarbeitet in Fiktion und Dokumentation – über Fernsehen und Kinoleinwand
in die Welt der Enkel, die keine eigene Kenntnis mehr haben von dieser Zeit, die
eine einzige riesige „crime story” war. Der Filmemacher Lutz Hachmeister, der
gerade eine Goebbels-Dokumentation vorgelegt hat, sagt: „Hier bündeln sich wie
in einem Brennglas die größten anzunehmenden Verbrechen des 20. Jahrhunderts.”
Dazu kommt eine
Körperkult-Ästhetik, bei der die Übergänge fließend sind von Leni Riefenstahls
lichtumflossenen Heldenbildern aus dem Dritten Reich und der selbstverliebten
Verzückung beim wummernden Viervierteltakt der Berliner Love Parade. Von Kraft
durch Freude zur Freude durch Kraft. Als Glatzen-Pop auf der Bühne, als Mode-Gag
in der Disco und als Soap-Opera auf dem Bildschirm haben die Accessoires der
SS-Herrenmenschennoch einmal Karriere gemacht.
Zur Entwirklichung der
Gegenwart tragen solche Trends mehr bei als zur Verherrlichung der Vergangenheit.
Mit hektischer Beschleunigung wechseln Szenen eines futuristischen Heute mit
Bildern vergangener Zeitläufte. Aus Zufälligkeiten und Willkür entsteht ein
Anschein von historischer Gleichzeitigkeit. Die Folge ist eine ungemein
hektische Statik, ein aggressiver Stau, künstlerisch reizvoll, politisch quälend.
Man könnte ihn als das Lebensgefühl jener umstrittenen Berliner Republik
bezeichnen, die es bisher womöglich nur als ebendieses Gefühl gibt.
So fragmentiert
erscheint die Gegenwart, so ziellos ist der öffentliche Diskurs, dass sich nicht
einmal in Umrissen ein vorhersehbares Modell Deutschland abzeichnet. Zukunft?
„Zukünfte“, diverse, alle vage, alle nur Verlängerungen verschiedener Spielarten
des Hier und Jetzt. Nicht von ungefähr hat der damalige Bundespräsident Johannes
Rau auf dem deutschen Historikerkongress 2002 den Philosophen Ludwig Marcuse mit
der banalen Weisheit zitiert: „Was in der Gegenwart geschieht, erfährt man in
der Regel erst eine ganze Weile später von den Historikern.“
Der Mann, der sich in den Schatten seines breitrandigen Huts zurückzuziehen
sucht, um seine Verstörung zu verbergen, fröstelt in der Kälte. Er steht unter
der zynischen Inschrift „Arbeit macht frei" inmitten frierender alter Männer am
Tor des Todeslagers von Auschwitz. Schnee hat sich auf ihn gelegt. Deutlicher
als in diesem Augenblick kann Horst Köhler vorher nicht gespürt haben, dass es
noch immer eine vertrackte Ehre ist, Präsident der Bundesrepublik Deutschland zu
sein.
Es ist der 27. Januar
2005. Vor 100 Jahren hätten die Deutschen an diesem Tag den Geburtstag seiner
Majestät, des Kaisers Wilhelm II., gefeiert. Jetzt werden sie mit der Erinnerung
an den Tag konfrontiert, an dem vor 60 Jahren die Rote Armee 7650 Überlebende
des Lagers befreite, die nicht mehr gemordet oder auf den Todesmarsch geschickt
worden waren, 7650 von mindestens 1,1 Millionen. Die Hälfte von ihnen starb noch
in den folgenden Wochen.
1995, am 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, war Roman Herzog als erster
deutscher Präsident zu den Feierlichkeiten geladen worden. „Dies ist ein Ort der
Trauer und des Gedenkens“, hatte er vor den Krematorien des Vernichtungslagers
gesagt.
Die Begriffe, mit denen in Auschwitz der planvollen Ausrottung von sechs
Millionen Juden durch das Deutschland Adolf Hitlers gedacht wurde, haben sich in
den letzten zehn Jahren nicht verändert: Zivilisationsbruch.
Menschheitsverbrechen. Völkermord. Schuld und Scham. Und trotzdem klang anders,
was Horst Köhler anschließend ins Fernsehmikrofon sagte: „Wir Deutschen im
Besonderen müssen uns darum kümmern, dass nicht wieder hochkommt, was mal zu
diesen Verbrechen geführt hat.“
Wir Deutschen im Besonderen ... Das hörte sich nicht länger so an, als wären wir
eine auf ewig gezeichnete Nation, als müssten sich die Nachfahren
Hitler-Deutschlands als einzigartige Monster fühlen. Gewiss, in seiner Rede vor
dem israelischen Parlament bekräftigte Köhler später, dass auch für die
Generationen, die nach dem Krieg geboren sind, „die Jahre der Nazi-Herrschaft
ein nie auslöschbarer Teil der deutschen Geschichte“ seien.
Aber die Mahnung zur Bewahrung der Erinnerung gilt nicht mehr nur für die Enkel
und Urenkel der Täter. Auschwitz ist -von der Uno und im Europäischen Parlament
bekräftigt - zu einer globalen Chiffre für Völkermord geworden. Die Shoa – so
das hebräische Wort für den Versuch der Nazis, Völkermord planmäßig zu begehen –
befleckt für immer die Geschichte der Menschheit. Der zeitliche Abstand und die
weltweite multimediale Präsentation haben den Holocaust in eine universal
gültige moralische Erzählung über die fortwährende Präsenz des Bösen verwandelt.
Bis „Auschwitz“ zur Signatur des 20. Jahrhunderts wurde, war es ein weiter Weg.
Mit dem Vorsatz „Nie wieder“ hatten sich 1949 beide deutschen Nachkriegsstaaten
etabliert. Doch erst Mitte der achtziger Jahre erreichte Auschwitz den Status
eines negativen Gründungsmythos der Bundesrepublik, wurde Bestandteil unserer
Identität, wie Bundespräsident Köhler zu Jahresbeginn in Israel bekräftigte.
Es war eben zunächst
nicht weit her mit der Umerziehung der Deutschen. Nach dem ersten Erschrecken
über die Horrorbilder, die aus den Konzentrationslagern kamen, sorgten der Kampf
ums eigene Überleben und die Bedrohungen des Kalten Krieges für willkommene
Gelegenheiten zur Verdrängung. Für die schnelle Einbindung ins westliche Lager
bedankten sich die Westdeutschen mit Loyalitätsbezeugungen als demokratische
Musterschüler, die Ostdeutschen verschwanden völlig in der Umarmung des großen
Moskauer Bruders.
Die Nazi-Gräuel erschienen als eine überwundene Krankheit, die im Westen Hitler
und ein paar Oberschurken, im Osten dem verbrecherischen Monopolkapitalismus
angelastet wurden. Selbst die wissenschaftliche Aufarbeitung des gern als „unvorstellbar“
charakterisierten Genozids an den Juden war in den ersten drei Jahrzehnten
tastend und unsicher.
In den Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung geriet der Mord an den
europäischen Juden erst mit großer Verzögerung. Gewiss, durch den 1963
beginnenden Frankfurter Auschwitz-Prozess und die 68er Revolte gegen die Väter
begann in der Bundesrepublik die Diskussion über das Selbstverständnis der
Deutschen vor dem Hintergrund der Nazi-Zeit sowohl emotionaler als auch
kenntnisreicher zu werden. Willy Brandt - der von den Nazis verfolgte, nach
Norwegen emigrierte kämpferische Antifaschist – setzte 1970 als Bundeskanzler
mit seinem überraschenden Kniefall vor dem Monument des Ghetto-Aufstands in
Warschau stellvertretend für sein Volk ein symbolisches Zeichen, dass die
Deutschen Schuld und Versagen anerkennen.
Aber erst mit der 1979 ausgestrahlten amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“
erreichte Auschwitz den Gefühlsbereich einer breiten Öffentlichkeit. Und noch
einmal in ein neues Stadium trat die Gedächtnis- und Identitätsgeschichte der
Westdeutschen in den achtziger Jahren mit dem Historikerstreit um die
Singularität des Völkermords an den Juden, der mit erregter öffentlicher
Aufmerksamkeit ablief. Während rechte Historiker wie Ernst Nolte das Geschehen
relativieren wollten, um so etwas wie eine nationale Normalität für die
Deutschen zu ermöglichen, machte Auschwitz für linke Intellektuelle wie Günter
Grass die Rückkehr in die Nation für immer unmöglich: „Der Ort des Schreckens,
als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen
Einheitsstaat aus.“
Diese Debatte erledigte
1989 der Fall der Mauer. Aber ein wirklich neues Geschichtsgefühl, ein neuer Ton
im Umgang mit Vergangenheit begann sich erst zu etablieren, als 1998 mit Helmut
Kohl und seiner Ministerriege die Politikergeneration abtrat, die den Krieg und
den Untergang der Nazis noch persönlich miterlebt hatte.
Leicht fiel ihren Nachfolgern die neue Normalität nicht. Gespenstisch fahl
wirkte Bundeskanzler Schröder am 24. März 1999 – brüchig die Stimme, todernst
die Miene –, als er sich aus einem Berliner Hotel an die Fernsehnation wandte: „Ich
rufe von dieser Stelle aus alle Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, in dieser
Stunde zu unseren Soldaten zu stehen.“ Plötzlich schienen alle alten Gespenster
des zu Ende gehenden deutschen Jahrhunderts in der alten Reichshauptstadt wieder
aufzutauchen: Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligten sich
deutsche Kampfflugzeuge an Bombenangriffen auf einen anderen Staat. 14
Bundeswehr-Tornados waren beim Einsatz der Nato gegen Jugoslawien dabei.
Wie Kanzler Gerhard Schröder, damals 54, Außenminister Joschka Fischer, 50, und
Verteidigungsminister Rudolf Scharping, 51, war die ganze Generation, die ab
1998 die Berliner Republik regierte, mit dem „Peace“-Zeichen in die Politik
hineingewachsen, nur Scharping war ein halbes Jahr Soldat gewesen. Groß geworden
in der Rebellion gegen ihre Eltern und deren Verdrängung der Nazi-Vergangenheit,
hatten sie mit den Traditionen des deutschen
Militarismus radikal
gebrochen. Jetzt beendeten ausgerechnet sie, als rotgrüne Bundesregierung, das
Tabu, das seit 1949 Gültigkeit besessen hatte: Nie wieder Krieg!
Mit dem Fall der Mauer 1989 hatten sich die beiden deutschen Nachkriegsstaaten
selbst historisiert. Nur noch einmal – beim Golfkrieg 1991 – war das nun
vereinte Deutschland mit seiner „Nie wieder“-Argumentation um eine militärische
Beteiligung herumgekommen. Nach der Zuspitzung des Bürgerkriegs im Kosovo hielt
es dann 1999 die Bundesregierung für unmöglich, sich der Teilnahme an
Nato-Militäraktionen zu entziehen. Der Grüne Joschka Fischer begründete seine
Zustimmung mit den Worten: „Nie wieder Auschwitz heißt heute ‚Wehret den
Anfängen’. Gemeinsam mit ‚Nie wieder Krieg’ sind dies die drei konstitutiven
Prinzipien meiner politischen Biografie.“
Nicht nur die Außen-, auch die Geschichtspolitik Deutschlands nahm fortan eine
andere Richtung. Im Januar 2000 trat Bundeskanzler Gerhard Schröder im Festsaal
des Stockholmer Folkets Hus feierlich an ein Podium und gelobte vor dem
schwedisehen Königspaar, 19 anderen Regierungschefs sowie Parlamentariern,
Pädagogen, Historikern und ehemaligen KZ-Häftlingen aus 47 Ländern: „Einen
Schlussstrich unter die deutsche Geschichte kann niemand ziehen, und die
überwältigende Mehrheit der Deutschen will das auch nicht.“ Es war ein hoch
symbolischer Augenblick. Im feierlich gedämmten violetten Licht und in der
quasireligiösen Weihestimmung der Versammlung wirkte es wie das Aufnahmeritual
in eine internationale Bruderschaft wider das Vergessen, als der schwedische
Ministerpräsident Göran Persson, der zu diesem beispiellosen Holocaust-Forum
eingeladen hatte, dem Deutschen danach demonstrativ innig die Hand drückte.
Schröder hat es auch so
empfunden. Auschwitz, so hieß die Botschaft von Stockholm, sollte nicht nur
Chiffre für die Nazi-Verbrechen sein, sondern mit seiner Verpflichtung auf das
Erinnern auch ein Identitätsangebot für alle Europäer.
Das Holocaust-Mahnmal,
ein gewaltiges Feld von 2700 grauen Betonquadern im Zentrum von Berlin, das die
Deutschen immer an Auschwitz erinnern soll und dessen Bau Schröder damals in
Stockholm ankündigte, wird jetzt, 60 Jahre nach dem Untergang des Hitler-Reichs,
feierlich eröffnet.
Es konnte kein Denkmal werden, „wo man gern hingeht“, wie der Kanzler einmal
etwas flapsig gesagt hat. Aber es ist ein Monument geworden, an dem man nicht
leicht vorbeikommt. Den Blick auf die Welt verstellt es nicht.
Am 13. Februar 1945 war Dresden untergegangen, am 23. Februar desselben Jahres
Pforzheim. Im Bombenhagel und Feuersturm verendeten, erstickten und verbrannten
etwa 35000 Menschen in der Kulturmetropole an der Elbe und 17000 in der
Industriestadt an der Würm. 60 Jahre später reihten sich 5000 Pforzheimer im
Gedenken an das Inferno zu einer Lichterkette auf, und in Dresden versammelten
sich 50000 Überlebende sowie deren Kinder und Enkel mit Kerzen zur Erinnerung an
das Grauen des Luftkriegs. „Unmenschlich“ nannte der ehemalige Bundespräsident
Richard von Weizsäcker die Bombardierung Dresdens.
Sehen sich die Deutschen
plötzlich nur noch als Leidensgemeinschaft? Ist das Tätervolk zum Opfervolk
geworden?
Die Bewohner der beiden
geschundenen Städte sind längst viel weiter. Buße, Vergebung, Versöhnung,
Frieden - diese vier Schritte seien zur Heilung der Wunden nötig, sagte John
Petty, der frühere Propst der von der deutschen Luftwaffe bombardierten Stadt
Coventry, bei den Trauerfeiern im Pforzheim. An beiden Orten hatten die
Rechtsradikalen mit ihren Provokationen keine Chance.
„Bomben-Holocaust“ nannten die Abgeordneten der rechtsextremen NPD im
sächsischen Landtag den Angriff - ein kalkulierter Affront gegen das Gedenken an
den Genozid in Auschwitz, dem sie sich demonstrativ verweigerten. Doch die
Antwort der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung fiel eindeutig aus. „Diese
Stadt hat die Nazis satt“, leuchtete ein aus Kerzen geformter Schriftzug am
Altmarkt. Und Oberbürgermeister In-golf Roßberg sagte: „Die Feuerfackel haben
die Nazis in die Länder Europas geworfen, bevor sie auf uns zurückfiel.“
Die Rituale der Trauer und der Versöhnung haben in Dresden wie auch in Pforzheim
inzwischen rund ein halbes Jahrhundert Tradition. Die Forderung des
Bundeskanzlers, „Untat und Leid nicht gegeneinander aufzuwiegen“, ist hier
längst erfüllt. Und so konnte Klaus von Dohnanyi, SPD-Politiker und Sohn eines
von den Nazi-Schergen hingerichteten Widerstandskämpfers, am 60. Gedenktag – mit
Blick auf die radikalen Rechten – fordern: „Etwas mehr Selbstbewusstsein täte
uns gut; deutsche Geschichte besteht nicht nur aus Nazis. Man muss sagen dürfen,
dass die Zerstörung Dresdens ein Verbrechen war. Wir dürfen aus Angst vor
Beifall von der falschen Seite die Wahrheit nicht verschweigen.“
Er kann mit der Zustimmung vor allem der jüngeren Deutschen rechnen, die sich
frei fühlen von jeder persönlichen Schuld. Die „Pforzheimer Zeitung“ hat 60
Teilnehmer der inzwischen ritualisierten Lichterkette aus ihrer symbolhaften
Anonymität befreit und sie – in individuellen Einzelfotos – auf ihren
Lokalseiten abgebildet. Sie scheinen die zentrale Botschaft der Deutschen 60
Jahre nach Kriegsende zu verkörpern: Erinnerung statt Erfahrung, Versöhnung
statt Aufrechnung, persönliches Schicksal statt kollektiver Geschichte.
Ist das nun die vielbeschworene Bewältigung der Vergangenheit? „Es gibt keine
Bewältigung“, schrieb der Schriftsteller und Richter Bernhard Schlink in einem
SPIEGEL-Essay, „aber es gibt das bewusste Leben mit dem, was die Vergangenheit
gegenwärtig an Fragen und Emotionen auslöst.“ Was könnte denn ein Deutscher, ein
später geborener, auch mehr tun, als sich den Tatsachen zu stellen, das
Entsetzen zu spüren und die Hilflosigkeit auszuhalten? Und natürlich kann er
sich vornehmen, nach besten Kräften dafür zu sorgen, dass sich das Schreckliche
niemals und nirgends wiederholt.
Nur, dass es 60 Jahre
nach Kriegsende noch immer nicht einfach zu sein scheint, sich den weitgehend
bekannten Fakten zu stellen. Im Gästebuch zur Holocaust-Ausstellung 2002 im
Berliner Historischen Museum fand der damalige Museumspädagoge Hilmar Sack die
Eintragung einer Schülerin aus einer 9. Klasse – also etwa 15 Jahre alt.
Sie schrieb: „Ich finde nicht schön, dass Hitler die Juden umgebracht hat. Jeder
von ihnen verdient unser Mitleid.“ Ein anderer hatte dahinter gekontert: „Wieso
Hitler? Dein Opa!“ Opa ist tot. Die meisten Mörder sind nicht mehr unter uns,
die Mitläufer, die Minderbelasteten. Damit scheint eine Blockade des Schweigens
durchbrochen, die jahrzehntelang die Auseinandersetzung über die Vergangenheit
in vielen deutschen Familien und in der Gesellschaft gelähmt hat. Jetzt finden
die Opfer und ihre Angehörigen Gehör, Opfer nicht nur der Nazis, sondern des
Krieges generell – die Überlebenden des Bombenterrors, der Vertreibung, von
Siegerwillkür.
Die Geschichte offenbart sich in Geschichten. Schon vor zehn Jahren, bei den
Feiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, zeichnete sich ab, was inzwischen
allgemeiner Trend geworden ist – die Menschen Europas, nicht nur die Deutschen,
wollen von ihren Leidenserfahrungen erzählen.
Damals war es ausgerechnet der todkranke, staatsstarre französische Präsident
François Mitterrand, der mit bewegender Rede und persönlichen Bekenntnissen
dafür sorgte, dass die Serie staatlicher Gedenkveranstaltungen nicht zur hohlen
Geste erkaltete. Mitterrand legte in Berlin sein Manuskript zur Seite und begann
einfach zu erzählen. „Ich bin nicht gekommen, um einen Sieg zu feiern“, sagte
der damals 78-jährige Staatsmann, der noch Splitter deutscher Granaten im Leib
trug. „Ich möchte Zeugnis ablegen.“
In schlichter Sprache, intensiv und oft fast poetisch, brachte Mitterrand seine
Erfahrungen als Soldat und Kriegsgefangener auf die Formel von den „Erbfeinden“,
die 1000 Jahre brauchten, um zu erkennen, dass sie Brüder sind. Europa ist ihr
gemeinsames Zuhause: „Morgen muss das begonnene Werk vollendet werden.“
Die intensive
persönliche Bewegung der Beteiligten prägte alle Wortmeldungen. Königin
Elizabeth von England erzählte Kriegserlebnisse, der israelische Präsident Eser
Weizman, Großherzog Jean von Luxemburg. Der britische Premierminister John Major
schilderte, wie seine Familie, als er erst wenige Monate alt war, nur knapp dem
Einschlag einer V-2-Rakete entronnen war.
Der große Krieg, das zeichnete sich bereits damals ab, ist das große europäische
Epos der Neuzeit. „Auf ganz Europa lastet das Kainszeichen“, sagte der polnische
Schriftsteller Andrzej Szczypiorski, Häftling im damaligen KZ Sachsenhausen. „Niemand
von uns ist ganz ohne Schuld angesichts dessen, was damals, in den Jahren des
Krieges gegen Hitler, mit den Menschen geschehen war.“
Meinungsbefrager wollten damals wissen, dass in Deutschland die Kriegszeit als
Thema in der dritten Generation verblasst sei. Aber inzwischen lässt eine Flut
von Büchern, Filmen, Interviews und Lebensgeschichten besonders in Deutschland
erkennen, dass im familiären Gespräch, im Austausch unter Freunden und in
privaten Begegnungen mehr Vergangenheit „bewältigt“ worden ist, als im
politischen Alltag sichtbar wurde. Die Jahrestage verstärken den Trend. Die
Feindseligkeit, ja, der Hass des Generationskonflikts der Nachkriegszeit, der
sich 1968 entlud, ist heute verschwunden. Dafür wird erkennbar, dass durch die
emotional aufgeladenen politischen Auseinandersetzungen zwischen Vätern, Söhnen
und Enkeln in beiden deutschen Nachkriegsstaaten ein Prozess des kollektiven
politischen Lernens in Gang gekommen ist, dessen Ergebnisse das historische
Unterfutter der Berliner Republik bilden.
„Wer wir sind, als wen wir uns selbst sehen, das hängt immer auch von der
Erzählung darüber ab, wer wir waren – und wie es gekommen ist, dass wir so
geworden sind, wie wir sind“, hat Bundespräsident Johannes Rau 2002 gesagt. Das
klang – ein Dutzend Jahre nach der Vereinigung – noch wie eine Klage über einen
unbefriedigend unfertigen Zustand. Knapp zwei Jahre später konstatiert
Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier: „Es scheint, als würde eine Debatte
über Deutschland und ,deutsch sein’ nachgeholt, die nach 1989 nicht geführt
wurde.“
Wenn heute 60-Jährige über das in der Kindheit Erlebte schreiben oder über das
von Eltern und Großeltern Erzählte reflektieren, sei das „ein völlig neuer
Aggregatzustand von Erinnerung“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Aleida
Assmann, die über den Umgang mit deutscher Vergangenheit in den Familien
geforscht hat: „Das ist der Versuch, den Generationendialog, den es nicht gab,
zeitverschoben in ein Selbstgespräch zu transformieren.“ Noch immer erscheint es
vielen nur schwer möglich, sich zu den Tätern in ein historisches Verhältnis zu
setzen, das ein identitätscharakterisierendes „Wir“ erlaubt. Auf vielfältige
Weise wirkt so noch immer die in Jahrzehnten eingeschliffene Gewohnheit nach,
die deutsche Schuld an den Nazi-Verbrechen als Aufforderung zur Distanzierung
vom eigenen Land und seiner Geschichte zu betrachten. Es galt als progressiv,
sich als Weltbürger zu gebärden – die Deutschen, das waren die anderen.
Es war der jeglicher Art von Nationalismus unverdächtige
Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der in den sechziger Jahren aus Leipzig in
den Westen vertrieben worden war, der die Deutschen warnte vor der „Verachtung
der eigenen Herkunft, Landschaft und Überlieferung“. Er hielt diese „entschiedene
Geschichtsfeindlichkeit“ für „eigentümlich deutsch“. Tatsächlich nahm vor 1989
die Flucht vieler junger Deutscher in einen moralisierenden Individualismus oder
Internationalismus Züge eines negativen Nationalismus an: Die Leidenschaft, mit
der wir nicht Deutsche sind, die macht uns keiner nach in der Welt.
Eine Folge dieser Lossagung von der deutschen Geschichte und der Zugehörigkeit
zur deutschen Nation ist bis heute die Überlagerung politischen und
geschichtlichen Denkens durch ein nahezu grenzenloses Vertrauen in ökonomische
Erfolge. Schon in der alten Bundesrepublik entdeckte die Soziologin Helge Pross
1982 eine Selbstbezogenheit der Bürger, die keinen Raum ließ für Ideen über das
private Glück und die persönlichen Interessen hinaus. Und anders als in anderen
Ländern hielt keine nationale Identität als übergeordnete, sinngebende Einheit
diese Tendenzen in Schach. Der „Verfassungspatriotismus“, der die Gesellschaft
allein durch gesetztes Recht zusammenhalten sollte, konnte die kulturelle und
emotionale Lücke nicht wirklich füllen.
In der dritten Nachkriegsgeneration – das ergaben die Studien des Essener
Sozialpsychologen Harald Welzer – hat das offizielle Bewusstsein ziemlich
verlässlich die aufklärerische Botschaft in die privaten Überzeugungen verankert,
dass der Holocaust das grauenhafteste Verbrechen der Menschheitsgeschichte war.
Mögen manche auch noch – gegen ihre generelle Einsicht – hartnäckig an der die
eigene Familie entlastenden Behauptung festhalten: „Opa war kein Nazi“, die
Welzer als Titelzeile auf sein vielbeachtetes Buch geschrieben hat,
grundsätzlich werden die negativen Aspekte der nationalsozialistischen
Vergangenheit nicht länger abgespalten, sondern die eigene Identität lädt sich
mit Ambivalenz auf.
Ob der Nationalstaat noch – oder wieder – in der Lage sein wird, den jungen
Deutschen jene Gefühlsbindung an Gebräuche, Rituale und Zeremonien zu liefern,
die offenbar auch in der globalen Welt für den Einzelnen als Halt und
Orientierung unverzichtbar ist, erscheint noch nicht entschieden. Sowohl ein
demokratisches, weltoffenes, postchauvinistisches Deutschland als auch ein
postnationales Europa, das sich auf die Gemeinsamkeit seiner kulturellen
Traditionen gründet, erscheinen vielen attraktiv.
Richard von Weizsäcker mag das eine vom anderen nicht mehr trennen. Für den
Ex-Präsidenten ist Deutschland endlich in einer „ersprießlichen“ und für seine
Nachbarn erträglichen Weise bei sich selbst angekommen – „nämlich in Europa“.
Die deutsche Frage sei eben nicht allein durch die Vereinigung beantwortet
worden, sagt er, sondern auch durch den 1. Mai 2004 – den Tag, an dem die
Europäische Union zehn neue Länder aus Süd- und Osteuropa aufnahm. „Die
Generation meines Enkels wird sehr viel leichter als wir begreifen, dass wir
unsere Identität und unsere Aufgaben nicht mehr allein im nationalen Rahmen
suchen können.“ Schon jetzt leben Bundespräsident Köhler, Bundeskanzler Schröder
und Außenminister Fischer diese neue deutsche Form von Normalität nicht immer
ganz unfallfrei, aber erstaunlich selbstverständlich vor. Sie handeln damit ganz
im Sinne der ihnen folgenden Generation, wie der Regisseur Marc Rolhemund, 36,
im Februar 2005 auf der Berlinale deutlich machte.
Gefragt, ob sein Film „Sophie Scholl - die letzten Tage“ über die studentische
Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ Teil einer neuen deutschen Nazi-Filmwelle sei,
sagte er: „Meine Generation ist unbefangen: Unser Blick auf die Zeit vor 60
Jahren ist ein freier, kein schuldhafter. Er muss sich nicht rechtfertigen...
Aber wir haben die Verantwortung, das Verbrechen im Bewusstsein zu halten.“
(Leinemann, 2005)
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