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Literarische Texte

Tilde Michels (geb. 1920) ist eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen in Deutschland. Die  folgende Geschichte stammt aus dem Jahre 1974.

1. Aufgabe

A/ Lesen Sie zuerst den Titel des Textes! Worum geht es vermutlich im Text?

B/ Was erzählt der Vater? Was hört das Kind? Wie viel versteht das Kind von der Geschichte des Vaters?

Tilde Michels: Ein Freund von damals

Ein Vater wird von seinem Kind gefragt: „Was war, als du so alt warst wie ich?” Und der Vater erzählt von der Straße, in der er gewohnt hat, von den Bettelmusikanten auf den Höfen und von dem freundlichen Herr Petri, der immer allen Kindern Bonbons geschenkt hat.
„Das kenn ich ja alles”, sagt das Kind. „Erzähl von den Buben! Hast du einen Freund gehabt wie ich den Flori?”
„Natürlich”, sagt der Vater. „Bernhard hieß er, Bernhard Rosenbaum. Mit dem konnte ich am besten spielen.”
„Was habt ihr gespielt?” will das Kind wissen.
„Bernhards Eltern hatten eine Tuchhandlung in ihrer Wohnung im Nachbarhaus”, erzählt der Vater. „Da stand ein riesiger Tisch mit einer dicken Holzplatte, auf den die Stoffballen geworfen und ausgerollt wurden. Wenn keine Kunden da waren, spielten wir darauf. Man konnte auf dem Bauch über den ganzen Tisch rutschen. Die Platte war spiegelglatt. Mit den Händen haben wir uns rechts und links abgestoßen.”
„So einen Tisch wollen wir auch haben”, sagt das Kind. „Da würde ich eine Auffahrt machen und meine Autos runterrollen lassen.”
„Mit so einem Tisch”, sagt der Vater, „kann man viel machen. Manchmal haben wir uns auch unter der Platte eine Höhle gebaut. Da hat uns keiner entdeckt, und wenn die Kunden kamen, waren wir ganz still und haben zugehört, was sie redeten. Es ging immer sehr laut zu, viel lauter als bei uns zu Hause. Zuerst habe ich gedacht, sie streiten miteinander, wenn sie über die Stoffe und die Preise redeten, aber dann merkte ich, dass es ihnen Spaß machte, sich so anzuschreien. Sie feilschten und zahlten für die Stoffe immer viel weniger, als Bernhards Vater zu Anfang verlangt hatte. Trotzdem war Herr Rosenbaum jedesmal zufrieden mit dem Geschäft. ’Wenn man nicht handelt, ist es kein Geschäft.’”
„Findest du das auch?” fragt das Kind.
„Es macht bestimmt mehr Spaß”, bestätigt der Vater.
„Hatte der Bernhard noch mehr Sachen wie den Tisch?” fragt das Kind.
Der Vater nickt. „Es gab noch etwas, um das ich ihn beneidet habe: Einmal im Jahr stellten Rosenbaums eine Hütte aus Zweigen und Laub auf ihren Balkon. Das war zu dem jüdischen Laubhüttenfest. Eine ganze Woche lang haben sie sich mit der Familie und Freunden in dieser Hütte getroffen. Sie haben darin gegessen und gesungen und gefeiert. Da habe ich auf dem Hof gestanden und hinaufgeschaut und gewünscht, wir hätten auch so eine Hütte.”
„Ich bau dir mal eine”, verspricht das Kind.
„Eines Tages”, fährt der Vater fort, „sagte der Herr Petri – du weißt schon, der sonst immer so freundlich war und uns Bonbons geschenkt hat –, sagte der zum Bernhard: ’Dreckiger Judenbengel!’ Und zu mir sagte er, ich solle mich schämen, als deutscher Junge mit einem Judenbengel zu spielen.”
„Warum sagte er denn so was?”
„Weil er die Juden hasste, wie viele damals.”
„Hast du trotzdem weiter mit dem Bernhard gespielt?” fragt das Kind.
„Nicht mehr lang”, sagt der Vater. „Da kam nämlich ein Lastwagen angefahren, der hielt vor Bernhards Haus. Drei Männer in braunen Uniformen sind ausgestiegen. Die haben Bernhards Vater aus dem Haus gezerrt und ihn gezwungen, auf den Lastwagen zu steigen. Dann sind sie mit ihm abgefahren. Bernhard hat zusammen mit uns Kindern auf der andern Straßenseite gestanden und zugeschaut. Kein Wort hat er gesagt. Wie das Auto weg war, ist er ganz langsam ins Haus gegangen. Von da ab kam er nicht mehr auf die Straße, und bald hieß es, Bernhard und seine Mutter seien fortgezogen.”
„Und dann?” drängt das Kind, weil der Vater nicht weiter spricht.
„Dann nichts mehr”, antwortet der Vater. „Ich weiß nicht, was aus Bernhard Rosenbaum geworden ist. Niemand hat sich darum gekümmert.”
„Wie lange ist das her?” fragt das Kind.
„Vierzig Jahre”, sagt der Vater.
„So lange schon!” sagt das Kind.
„Trotzdem”, sagt der Vater. „Ich denke manchmal, man hätte sich darum kümmern müssen.”
„Vierzig Jahre!” sagt das Kind. „Ich würde nach vierzig Jahren nicht mehr an so was denken.”
(Michels , 265-267)

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