2. Aufgabe
A/ Lesen Sie die Erzählung von Franz Hohler, und
schreiben Sie beim Lesen Ihre Gefühle auf, die während des Lesens in Ihnen
entstehen!
B/ Wie finden Sie diese Geschichte? Besprechen Sie
Ihre Meinungen und Begründungen in Kleingruppen!
C/ Skizzieren Sie die Etappen der Lebensgeschichte von
Ernesto Tonini!
Franz Hohler: Die Torte
Wer vom Bahnhof in
Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage
vorbei, in welcher junge Leute in farbigen Mützen und T-Shirts sitzen, vor sich
Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen
Tische und Stühle sind über verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur
Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind
die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinaufführen, zum Grand Hotel
Locarno, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von
Zypressen, Palmen und üppigen Rhododendronbüschen, mit seiner mächtigen
Mittelterrasse, auf der zwischen Säulen mit Blumenschalen Figuren zu Stein
erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen.
Wollen Sie weitergehen
zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu hören,
die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat?
Erfahren habe ich sie in
einem Gebäude, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal
unähnlich sieht, einem Altersheim in einem der Täler hinter Locarno. Etwas
bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Ecktürme zurückversetzt, mit
einem großen gepflästerten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola mündet,
aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben
prangt, steht beim Altersheim in unvergänglicher Mosaikschrift der Name des
Stifters.
In dieses Altersheim
führte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte
begonnen, die Parzellierung der unzähligen Grundstücke zu vereinfachen und den
Besitzern Vorschläge zur Zusammenlegung oder zu Abtäuschen zu machen, und da ich
auf einer Alp ein kleines Stück Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne
ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich
beschloß, den Besitzer des Nachbargrundstücks aufzusuchen. Der lebte seit kurzem
in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich über meinen Besuch,
klagte über sein abnehmendes Augenlicht und über seine Zuckerkrankheit, die ihm
in die Beine fahre, so daß er kaum mehr gehen könne, kurz, über das ganze
zusammenbrechende System seines Körpers, für das man auch das einfache Wort
Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne
weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der
alten Kastanienbäume und erzählte mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im
Dorf noch 600 Stück Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine
einzige Kuh übrig geblieben ist.
Während unseres
Gesprächs lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb geöffnetem Mund im Bett
und ließ nur von Zeit zu Zeit ein leises Stöhnen hören. Als ich ihn einmal
fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht.
„Er hört nichts mehr“, sagte mein Bekannter, „er ist bald hundert, und ich
glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.“
Wir fuhren mit unserm Gespräch fort, und ich fragte, ob es früher auch schon
Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und
sagte: „Un giorno vanno trovare la torta.“ „Eines Tages werden sie die Torte
finden“, und ließ seinen Kopf wieder sinken.
Mein Bekannter lächelte und sagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch
sage, und sie nennten ihn deswegen nur „la torta“, ein Spitzname, mit dem er
bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben
lang getragen habe. Aber was der Grund dafür sei, wisse niemand, und es kämen
auch keine Familienangehörigen zu Besuch, die man fragen könne.
Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich über ihn und fragte: »Dove vanno
trovare la torta?« „Wo werden sie die Torte finden?“
Ohne die Augen zu öffnen, sagte er: „Nellago.“ „Im See.“
Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, daß die Seepolizei
kürzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im
Bodenschlamm eine große Blechschachtel mit der Aufschrift „Grand Hotel Locarno“
gefunden habe, in welcher verrostete Zünder gewesen seien, die zu einer Ladung
Dynamit gehört haben könnten, und daß ein Rätselraten um diesen Fund entstanden
sei.
Kaum hatte ich dies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, riß die Augen
weit auf und rief: „L'hanno finalmente trovata!“ „Endlich haben sie sie
gefunden!“
„Die Torte?“ fragte ich und fügte hinzu: „Es war aber Dynamit drin.“
Nun erschien die
Pflegerin mit dem Mittagessen und war ganz erstaunt, den Alten aufrecht im Bett
sitzen zu sehen, und sie staunte noch mehr, als dieser mit klarer Stimme zu mir
sagte, ich solle jetzt gehen und am Nachmittag wieder kommen, dann werde er mir
die Geschichte mit der Torte erzählen.
Ich suchte eine Osteria auf, wo man mir eine wunderbare Polenta mit einem
Kaninchenschenkel servierte, und als ich am Nachmittag wieder das Altersheim
aufsuchte, war mit dem Alten eine eigenartige Veränderung geschehen. Er saß im
Lehnstuhl am Fenster und trug ein blaues Jackett mit Brusttressen und eine Mütze
mit der Aufschrift „Grand Hotel Locarno“, und so wie er dasaß, hätte man ihn
ohne weiteres gerufen, um einen Koffer ins Zimmer tragen zu lassen. Was er nun
erzählte, trug er ohne zu stocken vor, so daß ich fast nicht glauben konnte, daß
es sich um denselben röchelnden Menschen handelte, den ich heute morgen gesehen
hatte.
„Nehmen Sie Platz“, sagte er zu mir und wies auf den
Besucherstuhl, „ich kenne Sie zwar nicht, aber weil Sie mir die Nachricht von
der gefundenen Schachtel gebracht haben, will ich Ihnen meine Geschichte
erzählen. Mit Righetti“ -er wies mit dem Kopf auf seinen zuckerkranken
Zimmernachbarn –„hab ich schon gesprochen, er will auch zuhören.
Ich heiße Ernesto Tonini, ich bin 1904 in diesem Tal geboren, und ich weiß
nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon machen können – Sie sind
Deutschschweizer, nicht? – wie man damals gelebt hat. Es war ein einziger Kampf
ums Überleben, der vom Talboden bis zur Waldgrenze hinauf geführt wurde, jeder
Quadratmeter, den man bewirtschaften konnte, zählte, jeder Kastanienbaum
bedeutete so und soviel Mahlzeiten für hungrige Mägen, oft mußten die Kinder den
ganzen Sommer lang auf die oberste Alp mit den Ziegen und Schafen und hatten als
einzige Nahrung drei bis vier Liter Ziegenmilch am Tag, alle Familien hatten zu
viele Kinder, und wenn die Mutter bei der Geburt des siebten Kindes starb und
der Vater beim Mähen von einer Kreuzotter gebissen wurde und kein Gegengift da
war, wurden die Kinder zu Verwandten gegeben, wo sie sich gewöhnlich vom ersten
Hahnenschrei bis nach Sonnenuntergang abrackern mußten, oder sie kamen ins
Waisenhaus. Ich hatte Glück und kam ins Waisenhaus, und ich hatte nochmals Glück
und bekam nach der Schule eine Stelle als Laufbursche im Grand Hotel Locarno.
Natürlich versuchte man auch dort, das Letzte aus uns herauszuholen. Um 5 Uhr
war Tagwacht, dann mußten wir die große Terrasse und den Vorplatz wischen, wir
mußten die Brötchen beim Bäcker holen, und wehe, man wurde erwischt, wenn man
eins gegessen hatte, der Küchenmeister zählte sie ab und zog es dir vom Lohn ab,
falls man das Lohn nennen konnte, 50 Rappen am Tag, und ein Brötchen kostete 10
Rappen. Ich will euch nicht weiter langweilen mit dem, was wir zu tun hatten,
sondern sage nur noch, daß man als Jüngster alles zugeschoben bekam, worum sich
die Älteren zu drücken versuchten. Wir wohnten zu viert in Zimmern mit zwei
Betten übereinander, zwischen denen gerade ein Mensch stehend Platz hatte, und
für die andern, die alle von Locarno, Ascona oder Tenero kamen, war ich der
Tölpel aus dem Tal, ich hatte auch keine Gelegenheit, meine Geschwister zu
sehen, kurz, ich war einsam, elend und arm, und ich war täglich um Leute herum,
die gesellig, fröhlich und reich waren, und so wurde ich Kommunist.“
Ernesto Tonini lächelte und schaute vom
einen zum andern. Wir mußten ziemlich überraschte Gesichter gemacht haben.
„Das hättet ihr nicht gedacht, stimmt's oder hab ich Recht?“
Wir zwei Zuhörer nickten, und er fuhr
weiter.
„Der Bäckerjunge, der mir jeweils die Brötchen übergab, nahm
mich an einem meiner wenigen freien Abende an eine Versammlung mit, die in einer
kleinen Druckerei in Muralto abgehalten wurde, was heißt Versammlung, es war
eher eine Verschwörung, sechs oder sieben Männer waren da, und manchmal noch
Giulietta, die Tochter des Druckers, und dieser erzählte uns, wie sich Marx eine
Welt ausgedacht hatte, in der es keine Armen und Reichen mehr gibt, sondern in
der allen alles gehört, und wie unser großer Genosse Lenin von der Schweiz nach
Rußland gefahren war und dort den Zar gestürzt hatte, um diese Welt aufzubauen,
und wie es aber besser sei, dort, wo man arbeite, vorläufig nichts von diesen
Ideen zu sagen, weil bei uns noch die Reichen regierten und wir dann sofort raus
flögen, z. B. aus dem Grand Hotel Locarno.
Daran hielt ich mich,
aber von dem Moment an, wo ich bei den Kommunisten war, sah die Welt ganz anders
aus für mich. Ich wurde gelassener und machte meine Arbeit besser, denn ich
wußte nun, daß dies alles nicht so bleiben würde und daß ich eines Tages meine
Geschwister, die als Mägde, Knechte oder Steinbrecher arbeiteten oder noch im
Waisenhaus waren, ins Grand Hotel würde einladen können, in die Zimmer mit
Seesicht.
Da ich ganz adrett
aussah, bekam ich ab und zu ein Trinkgeld, und ich kaufte mir kleine Lehrbücher
für Deutsch, Französisch und Englisch, die ich mir in die Tasche steckte und
während meiner Botengänge hervorzog, um mich mit diesen Sprachen vertraut zu
machen. Wir seien, sagte uns der Drucker immer wieder, eine Zelle, und es sei
gut möglich, daß man einen von uns einmal ins Ausland schicke, wo die
Weltgeschichte gemacht werde.
Wenn ich den fremden
Gästen die Koffer ins Zimmer trug, versuchte ich immer, etwas in ihrer Sprache
zu sagen und von ihnen zu lernen. Das machte mich beliebt, und öfters verlangten
die Gäste, daß sie der kleine Ernesto an den Bahnhof begleite oder ihnen den Tee
aufs Zimmer bringe. Dies blieb im Hotel nicht unbemerkt, und nach drei Jahren
teilte man mich zum Etagendienst ein und stellte mich von Zeit zu Zeit sogar als
Aushilfskellner an. Und an zwei Abenden im Monat hörte ich an unsern
Versammlungen, wie Genosse Lenin Rußland umkrempelte, wie aber in München die
Räterepublik gescheitert sei und daß uns das eine Warnung sein solle, wie schwer
es die Revolution bei uns habe.
Und dann, auf einmal,
kam die Weltgeschichte nach Locarno. Im Herbst 1925 versammelten sich die
Ministerpräsidenten von halb Europa ausgerechnet hier, im Tessin, um über die
Folgen des I. Weltkriegs zu diskutieren. Soviel ich verstand, ging es vor allem
darum, Deutschland wieder zu einem normalen Mitglied Europas zu machen. Daß
Deutschland dies noch nicht war, merkten wir daran, daß alle Delegationen außer
der deutschen bei uns im Grand Hotel logierten, die Engländer, die Franzosen,
die Italiener, die Belgier und, warten Sie, ja, die Tschechen waren auch da, die
kamen etwas später, Herr Benesch und seine Frau, die immer einen Strohhut trug,
und die Polen.
Ganz Locarno war aus dem Häuschen in diesen vierzehn Tagen. Zwei- bis
dreihundert Journalisten rannten jeden Tag zum Palazzo di Giustizia, wo die
Sitzungen stattfanden und wo sie nicht hineindurften, und dann ins Grand Hotel
zu den Pressekonferenzen, wo sie auch nichts erfuhren, und dann zum
„Bankverein“, wo sie telephonieren und telegraphieren konnten. Politiker, deren
Namen man nur aus der Zeitung kannte, waren plötzlich leibhaftig zu sehen, der
deutsche Stresemann mit seiner leuchtenden Glatze trank abends auf der Piazza
Grande sein Bier, der Franzose Briand, klein und etwas gebeugt, ging einmal ins
Kino, Chamberlain, den Briten, sah man mit seiner Frau am Lido spazieren, und
wir im Grand Hotel hatten sie natürlich alle von ganz nahe, am Frühstückstisch
oder beim Diner, und das Personal schuftete von morgens früh bis abends spät,
und keiner durfte fehlen. Einmal fing mich der Küchenchef kurz vor zwölf auf der
Hintertreppe ab, als ich todmüde in mein Zimmer gehen wollte, und ich mußte ihm
helfen, Brötchen zu streichen, die ich dann zu einer mitternächtlichen
Pressekonferenz bringen mußte, und ich bekam mit, wie Grandi, die rechte Hand
Mussolinis, allen italienischen Journalisten drohte, wenn morgen auch nur ein
Wort vom Vertragsentwurf in einer ihrer Zeitungen stehe, werde diese sofort
verboten. Und dann durfte ich den Journalisten meine Brötchen servieren, und
Luigi, ein zweiter Aushilfskellner, schenkte ihnen Champagner ein. So lernte
ich, was Pressefreiheit heißt, und es wurde mir auch klar, weshalb der Drucker
mit Empörung von den Faschisten sprach.
Nicht nur ganz Locarno
war in Aufruhr, auch unsere kleine Zelle. Die Kommunisten, belehrte uns unser
Drucker, seien strikte gegen diese Verhandlungen. Ein Deutschland, das wieder
funktioniere, stärke die rechten und bürgerlichen Mächte in Europa, und dadurch
werde der revolutionäre Umsturz erschwert. Diese Konferenz, so war die Meinung
der Kommunisten, müsse deshalb sabotiert werden.
Wie ernst es ihnen damit war, erfuhr ich, als mich der Drucker nach unserer
Versammlung kurz vor Beginn der Konferenz zurückbehielt und mir sagte, da ich im
Grand Hotel arbeite, käme ich am nächsten an die Politiker heran, ohne Verdacht
zu erwecken, und alle Genossen erwarteten von mir eine große Tat für die
Weltrevolution. »Was für eine Tat«, fragte ich, und er öffnete eine Mappe, in
der einige Stangen Dynamit lagen, und zeigte mir, wie man die Zündschnur
entflammen mußte. »Sie ist auf 10 Sekunden berechnet«, sagte er, »damit niemand
Zeit hat, zu fliehen.«
Ich erbleichte. »Das heißt -«
»Ja, Ernesto, das heißt, daß dein Name in allen Geschichtsbüchern stehen wird.
Die Piazza Grande wird Piazza Ernesto Tonini heißen. Klar?«
»Klar, Chef.«
»Proletarier aller Länder –«
»– vereinigt euch«, murmelte ich und machte mich auf den Heimweg, mit der Mappe
unter dem Arm, und da ich mittlerweile ein Einzelzimmer hatte, so groß wie eine
bessere Besenkammer, versorgte ich sie einfach in meinem Koffer, den ich unter
dem Bett verwahrte. Ich hatte meinen Entschluß schnell gefaßt.
Mein Leben bis jetzt war hart und freudlos gewesen, Freunde außerhalb der Zelle
hatte ich kaum, große Chancen, im Hotelbetrieb aufzusteigen, konnte ich mir
nicht ausrechnen, vermissen würde mich niemand, dafür würde mein Name um die
Welt gehen, und meine Geschwister würden später auf einem Platz mit dem Namen
ihres Bruders eine Limonade trinken können.“
Ernesto Tonini hielt inne und fragte
mich, ob ich ihm das Teeglas vom Nachttischchen reichen könne, und als er es in
der Hand hatte, trank er es in wenigen Schlucken leer und fuhr sich mit der
Zunge über die vertrockneten Lippen.
Ich schenkte ihm aus dem Teekrug noch ein
zweites Glas ein, aber er winkte ab und fuhr in seiner Erzähllung fort.
„Die Konferenz begann, und die Frage war, wo ich möglichst
viele Teilnehmer aufs mal treffen könnte. Eine der wenigen Sicherheitsmaßnahmen
im Hotel war, außer daß man die Befestigung des Kronleuchters geprüft hatte, der
in der Eingangshalle über die vier Stockwerke hinunterhängt, daß die
Delegationen beim Diner möglichst weit voneinander entfernt saßen, also mußte
ich mir überlegen, auf welche der Delegationen ich das Attentat verüben wollte.
Die wichtigsten in meiner Reichweite waren zweifellos die englische und die
französische. Ich hatte mich schon für die englische entschieden, da Chamberlain
der Vorsitzende der Konferenz war und da mir Madame Briand ein Trinkgeld gegeben
hatte, als ich ihr einen Blumenstrauß vom Sindaco aufs Hotelzimmer gebracht
hatte.
Da bot mir der Zufall eine Gelegenheit, um die mich die Geschichte beneiden
mußte. Einer der wichtigsten Gäste, der in unserm Hotel ein- und ausging und vor
dem alle stramm zu stehen hatten, war ein Franzose namens Loucheur. Er war ein
Kapitalist aus dem Lehrbuch, der Drucker sprach seinen Namen mit Haß aus, wenn
er von den Hungerlöhnen der Dampfschiffgesellschaft und der Centovallibahn
sprach, denn beide gehörten Herrn Loucheur, und es hieß auch, es sei eigentlich
sein Verdienst gewesen, daß die Konferenz gerade nach Locarno gekommen war. Nun
ließ Monsieur Loucheur beim Confiseur des Hotels eine große Torte bestellen, die
am nächsten Mittag auf sein Motorschiff »Fior d'arancia« gebracht werden mußte.
Auf diesem Motorschiff, so sickerte bald durch, sollten die Spitzenmänner der
Konferenz zu einer Rundfahrt eingeladen werden, so daß sie in einer schöneren
Atmosphäre miteinander diskutieren konnten.
Eine reiche Tessiner
Platte mit Merlot und grünem Veltliner sollte auf dem Tisch für 12 Personen
bereitstehen, und später auf der Rundfahrt sollte dann zum Kaffee die große
Torte serviert werden. Zu meiner Überraschung wurde ich dazu auserkoren, die
Torte aufs Schiff zu bringen und dort dem Hauptkellner mit der Bedienung zur
Hand zu gehen. Dies hatte einerseits mit einem großen Bankett am Abend zu tun,
zu dessen Vorbereitung wieder einmal alle verfügbaren Kräfte mobilisiert wurden,
andererseits spielte wohl auch eine Rolle, daß ich mich auf deutsch, englisch
und französisch einigermaßen verständigen konnte.
Ihr könnt euch vorstellen, daß ich wenig schlief in dieser Nacht, und ihr könnt
euch vielleicht auch vorstellen, wie ich am andern Nachmittag das Dynamit auf
das Schiff brachte. Die Torte war zweistöckig, und der Confiseur hatte mit
Schlagsahne »Pace« und »Locamo« darauf geschrieben. Sie wurde in eine große
Blechschachtel gestellt, die man mit Klammern verschloß, und als ich sie aus der
Küche trug, ging ich damit zuerst in mein Zimmer, öffnete sie und schob die
Dynamitstangen so weit in die Kuchenmasse, daß die Zündschnur noch
herausschaute. Dann schloß ich die Schachtel wieder und trug sie wie eine
Monstranz den kurzen Weg zur Anlegestelle hinunter, wo mich der Hauptkellner
schon erwartete. Da der Raum im kleinen Schiffssalon sehr knapp war, hatte er
für die Torte einen Platz unter einem Sitz des Hinterdecks vorgesehen, was auch
den Vorteil hatte, daß sie kühler blieb, es war immerhin schon Mitte Oktober.
Ich verstaute sie also dort und nahm nachher mit halbem Ohr seine Anweisungen
für die Bedienung entgegen. Hauptsache, ich spürte die Streichhölzer in meiner
Tasche. Ich war bereit, die Weltgeschichte sollte kommen.
Und als die Minister und hohen Sekretäre nun einer nach dem andern nichtsahnend
das Schiff betraten, das sie in den Tod führen sollte, und von Herrn Loucheur
begrüßt wurden, Chamberlain, Briand, Stresemann, Luther, Sciaiola und wie sie
alle hießen, und das Schiff dann ablegte und in Richtung Luino fuhr und sie nach
ihren Broten und der Coppa und den Salamischeiben griffen und mit ihren
Weißweingläsern anstießen und immer wieder das Wort »Völkerbund« hören ließen,
geschah etwas Eigenartiges.
Ihr werdet begreifen, daß ich angesichts dessen, was bevorstand, ziemlich nervös
war, und so schüttete ich ausgerechnet der einzigen Dame an Bord, Lady
Chamberlain, etwas Weißwein über ihr Kleid, was mir einen zornigen Blick des
Hauptkellners eintrug, während mich Lady Chamberlain nachsichtig anschaute und
fragte: »Are you in love, young man?«
Und in diesem Moment wurde mir klar, daß ich wirklich verliebt war, und zwar in
Giulietta, die Tochter des Druckers, der ich so gerne nachschaute, wenn sie uns
Verschwörern etwas zu trinken brachte und dann wieder ging, und ich merkte, daß
ich schon lange auf eine Gelegenheit wartete, sie allein zu sehen, sie
einzuladen, mit mir spazieren zu gehen, und daß ich mit diesem Gedanken nicht
einfach spielte, sondern daß ich darauf brannte, sie zu küssen und zu umarmen,
und daß ich auf keinen Fall in die Weltgeschichte eingehen wollte, bevor ich
nicht mit einem Mädchen ausgegangen war, und zu meinem großen Erstaunen hörte
ich mich antworten: »Yes, I am, Madame, and I big your pardon.«“ Emesto Tonini faßte nun mit den Händen die vorderen Krümmungen
der Armlehne, zog seinen gebrechlichen Körper nach vorn, so weit es ging,
schaute uns eindringlich an und fuhr dann weiter:
„Und als der Moment kam, in dem mich der Hauptkellner hieß, die
Torte zu holen, ging ich aufs Hinterdeck und wußte mir nicht anders zu helfen,
als daß ich absichtlich über eine Bank stolperte und die Blechschachtel mit der
»Pace und Locamo«-Torte über die Reling in den See fallen ließ, wo sie langsam
versank.
Die Empörung des Hauptkellners kannte keine Grenzen, auch Monsieur Loucheur
zischte mir »connard« und »cretin« zu, und wäre nicht Lady Chamberlain gewesen,
die ihre Hand auf die meine legte und versöhnlich sagte: »He is in love,
gentlemen – why don't you love each other too?« hätte ich wohl auf der Stelle
Prügel gekriegt.
So rot wie damals bin ich nie mehr geworden, und wer weiß, ob Deutschland in den
Völkerbund aufgenommen worden wäre ohne die Fürsprache von Lady Chamberlain für
die Liebe, und so habe ich vielleicht doch ein bißchen am Gang der Welt
mitgewirkt. Natürlich machte die Geschichte sofort die Runde, alle Kollegen
nannten mich von da an nur noch »la torta«, und hätte sich nicht Lady
Chamberlain sofort bei der Direktion des Hotels für mich eingesetzt, wäre ich
bestimmt gefeuert worden.
Was in der Torte war,
hat nie jemand erfahren, aber am nächsten Tag ging ich zum Drucker und sagte ihm,
daß seine Dynamitstangen am Grunde des Lago Maggiore in einer Kuchenschachtel
lägen und daß er das nächste Attentat besser selber ausführe, statt es einem
Trottel wie mir anzuvertrauen, und daß ich nicht mehr an seine Versammlungen
käme und auch nicht mehr an den Kommunismus glaube, wenn man für ihn so nette
Leute wie Herrn und Frau Chamberlain umbringen müsse und erst noch selbst
draufgehe dabei.
Ich gab ihm jedoch mein Wort, niemandem etwas davon zu erzählen, wofür er sehr
dankbar war, und im übrigen wurde er später mein Schwiegervater, denn Giulietta
mochte mich, wir küßten und umarmten uns in der kurzen Zeit, in der wir ein Paar
waren, denn sie ist jung und kinderlos an Tuberkulose gestorben, aber ich liebe
sie noch heute, ich liebe sie und Lady Chamberlain, die mich beide daran
gehindert haben, in die Weltgeschichte einzugehen.“
Erschöpft ließ sich der alte Mann in den Lehnstuhl sinken, und
eine Weile war es ganz ruhig im Zimmer.
Dann bat er mich, vom Waschtisch die beiden Zahngläser zu holen und auszuspülen
und das untere Fach seines Schranks zu öffnen. Dort stand hinter seinem kleinen
Koffer, in dem er einst das Dynamit aufbewahrt haben mußte, eine Flasche Grappa
und ein Zinnbecher mit der Aufschrift „Grand Hotel Locarno“.
Er ließ es sich nicht
nehmen, uns, zitternd zwar, aber ohne etwas zu verschütten, selbst einzuschenken,
und wir tranken, während es draußen zu regnen begann und allmählich dunkler
wurde, die ganze Flasche in kleinen und langsamen Schlucken aus.
Als ich meinen Bekannten nach zwei Tagen anrief, weil unser
Tausch vom Grundbuchamt genehmigt worden war, sagte er mir, Ernesto Tonini sei
in der Nacht darauf friedlich gestorben.
(Hohler, 5-20)
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