Was macht uns eigentlich aus?
1. Aufgabe
Der nachstehende Text leitet das Buch „Deutschlandalbum“
von Axel Hacke ein. In diesem Text vergleicht er das Buch mit einem
Familienalbum, das Fotos über die Kinder und die Alten enthält, zu denen man „ein
bisschen was dazu“ schreibt … Und beide geben Antwort auf Fragen wie:
Was macht uns eigentlich aus?
Wie sind wir so geworden?
Und was verbindet uns?
Was ist trennend?
A/ Lesen Sie den Text durch, und
beantworten Sie die nächsten Fragen:
Was erfährt man über Axel Hacke?
Wie hat die Geschichte Deutschlands sein Leben geprägt?
Welche Ereignisse
erwähnt er und in welchem Kontext?
Wie ist die Beziehung des Schriftstellers zu seiner Heimat?
Welche Gefühle
werden erwähnt?
B/ Sammeln Sie, wie oft und in welchen Zusammenhängen die Wörter „deutsch”,
„Deutsche”, „Deutschland” im Text vorkommen. Könnten Sie diese Wörter mit den
Wörtern „ungarisch”, „Ungar”, „Ungarn” austauschen? Wo ja und wo nicht? Warum?
Diskutieren Sie in der Gruppe!
Axel Hacke: Ich bin Deutscher
Als ich geboren wurde, war der Krieg
gerade elf Jahre vorbei. Man sah seine Folgen noch
überall.
Ich
fing Frösche in kreisrunden Teichen im Wald. Diese Teiche waren von britischen
Bombern angelegt worden. Sie waren trichterförmig.
Über dem Wald hatten die Bomber jene Last abgeworfen, die sie über der
Stadt nicht losgeworden waren und nicht wieder mit zurücknehmen wollten. So
erzählte man es mir.
Ich
spielte mit Kindern, die mit ihren Eltern in engen Baracken auf der anderen
Straßenseite wohnten, ein ganzes Lager für Vertriebene und Spätaussiedler.
Oft war samstagmittags um
zwölf Probealarm der Sirenen; sie heulten pünktlich, und ich lernte den
Unterschied von „Fliegeralarm“ und „Entwarnung“. Wofür, fragte ich mich, musste
ich das wissen? Weil auch ich vielleicht einen Krieg erleben würde?
Abends erzählten die
Eltern immer wieder mal von Ausgebombtsein und Gefangenschaft. Und der Onkel,
der noch zu jung gewesen war, um Soldat zu werden, der nur noch zum „Arbeitsdienst“
einberufen worden war, dieser Onkel, der vielleicht deshalb der Heiterste und
Unbeschwerteste der ganzen Familie war, dieser Onkel also berichtete, wie nach
einem Bombenangriff einmal ein Pferd tot auf der Straße lag, wie der Metzger kam
und ihm den Kopf abschnitt, es auf der Straße zerlegte und das Fleisch im hohen
Bogen auf seinen Wagen warf.
Ich hatte, wie viele,
einen Vater, der kriegsverletzt war. Und ich lernte, dass mein Vater noch einen
Bruder gehabt hatte, der war Bäckergeselle gewesen und dann Soldat. Er starb in
einem Krankenhaus unserer Heimatstadt, war zurückgekehrt aus der Gefangenschaft und hatte nicht mehr richtig essen können, „alles gab er wieder von sich“,
wie es immer hieß. Onkel Hans. Er lebte als Bild an der Wand in unserer Familie
weiter, und er existierte fort in der absurden Angst meiner Großmutter, ich,
der älteste Enkel, könnte auch irgendwie verhungern. Immer musste ich essen,
wenn ich sie besuchte. Auch wenn ich gerade vom Essen kam, musste ich bei ihr
noch einmal essen, sie zwang mich regelrecht dazu. Widersetzte ich mich, war sie
richtig verstört.
Ich erfuhr in der Schule,
dass in Deutschland die Juden verfolgt und ermordet worden waren, und dass der
ganze Krieg von Deutschland ausgegangen war, der zweite nun schon in wenigen
Jahrzehnten. Juden selbst begegnete ich erst als Erwachsener. Zu Hause beklagte sich mein Vater manchmal über „diese jüdische Hast“, wenn ihm etwas zu
schnell ging. Als wäre nichts geschehen. Als könne man das Wort „jüdisch“ noch
einfach so benutzen.
Ich lernte, meinem Land zu misstrauen. Nie wich
dieses Gefühl, die eigenen Eltern seien an all diesen
Verbrechen irgendwie beteiligt gewesen. Nie konnten sie sich ganz erklären. Nie
verstand ich sie wirklich.
Ich
suchte nicht nach dem, was mich mit ihnen und mit meinem Land verband. Ich
suchte das Trennende. Ich wurde Deutscher, aber ich wurde es nicht gern.
Franzose zu sein wäre mir lieber gewesen.
Jene Zuneigung, die
andere anderswo für ihr Land empfinden, jene Geborgenheit und Nähe und das
unwillkürliche Zugehörigkeitsgefühl, das anderen anderswo ihr Land gibt – es war
schwer, das in Deutschland zu spüren. Nein: Es war unmöglich.
Die Folgen merkt man
heute noch.
„Deutsch“, dieses Wort
hat keinen guten Klang.
Als wir
für dieses Buch nach Fotos über „Deutschland“ suchten, als wir
viele Fotografen baten, Bilder zu schicken, die sie mit dem Wort „Deutschland“
verbanden – es kam fast nichts Schönes. Nur die ewigen Stereotypen:
Gartenzwerge, Schilderwälder, hässliche Wohnzimmer, stereotype
Reihenhaussiedlungen...
„Deutsch“ – man kann das
Wort abwertend benutzen. Vor einer Weile stand ich in einem der schwedischen
Möbelhäuser, in denen sich halb Deutschland einrichtet. Ich wartete in einer
Schlange an der Kasse. An allen Kassen standen solche Schlangen, nebeneinander.
Plötzlich wechselte die Frau vor mir die Schlange; sie ging mit zwei Schritten
nach nebenan, wo ihr Mann anstand: Sie hatten sich getrennt angestellt und
gewartet, wo es schneller gehen würde. (Seltsam: Dass die Deutschen oft so eine Angst
haben um ihren Platz in der Welt, dass sie immer fürchten, man wolle
ihnen etwas nehmen. Es sind ja auch die Deutschen, die an den Swimmingpools
der Welt ihre Liegen mit Handtüchern reservieren, vor dem Frühstück.)
„Das ist so deutsch“,
zischte jemand hinter mir, als er die Frau plötzlich in der Schlange nebenan sah, nicht mehr
vor uns. Er meinte es nicht gut.
Es sind immer die
Deutschen, die verächtlich sagen, etwas sei „deutsch“, „sooooo deutsch“ oder
„sehr deutsch“. Es ist nämlich sehr deutsch, das Deutsche zu verachten. Immer
stehen die Deutschen ein bisschen neben sich und urteilen und mögen dies nicht
und jenes auch nicht.
Vor einer Weile
beschimpfte der italienische Staatssekretär Stefani (kurioserweise war er für
Tourismus zuständig) die Deutschen als ein Volk von „Superblonden“, das sich
seine Freizeit am liebsten mit „Rülpsgelagen“ vertreibe. Die Sache führte in
Deutschland bekanntlich zu einiger Aufregung, das ganze Land war schwer
beleidigt – zumal kurz zuvor der italienische Ministerpräsident einen
deutschen Europa-Abgeordneten mit einem SS-Kapo verglichen hatte. Schließlich sagte der Bundeskanzler seinen Sommerurlaub in Italien ab, und Stefani trat
zurück.
Bemerkenswert ist, wie
die Deutschen auf diesen verrückten Staatssekretär reagierten. Als ich mich
unter Freunden umhörte, war die Reaktion immer in zwei Punkte gegliedert.
Erstens: Dieser Mann gehört aus der Regierung entfernt, es ist gut, dass der
Kanzler daheim bleibt, „irgendwo ist eine Grenze“. Zweitens: Er hat Recht, „mal
unter uns gesagt“, dieser Staatssekretär, die Deutschen benehmen sich im
Ausland ja wirklich unmöglich, „schau sie dir an, in Rimini oder wo, diese
Horden“.
So ist
der Deutsche: stets auf Seiten des eigenen Volkes und gleichzeitig dagegen.
Alles, was er für „deutsch“ hält, mag er nicht. Deutscher bleibt er natürlich
trotzdem.
Was ist deutsch? An
dieser Frage können sich Akademien übers Wochenende zergrübeln – und ich
verstehe das auch. Warum fragt man immerzu: Was ist deutsch? Weil man es nicht
weiß! Die Frage ist nicht erst für uns aktuell, sie ist es seit Jahrhunderten,
musste es immer sein für Bayern, Sachsen, Preußen und Westfalen,
die nach etwas Gemeinsamem suchten und suchen, das es rechtfertigte, sie
in einem Staat zusammenzufassen.
Es
gibt ja kaum ein Volk, das so ängstlich-aufmerksam daraufhört, was die anderen
denken. Das so gern betrachtet, analysiert, gelobt werden möchte. Und das auch
so leicht die Urteile anderer über sich übernimmt.
Ich
glaube wirklich, dass viele Deutsche sich selbst für ein wenig humorlos halten,
weil zum Beispiel die Engländer gern behaupten, die Deutschen seien humorlos – dabei zeige uns einmal einer ein paar
Dichter und Zeichner auf der Welt, die komischer schreiben und komischer
zeichnen als Loriot, Gernhardt, Waechter, Bernstein und ihre Schüler!
Ich glaube auch, die
Deutschen halten sich selbst für besonders ehrlich und anständig, weil ihnen von
den Italienern so oft gesagt wird, sie seien ehrlich und immer anständig – dabei
zeige uns mal einer herrlichere Korruptionsfälle als den Flick-Skandal, die
bayerischen Amigo-Affären, die Kölner Müllprozesse...! Und wenn die Franzosen
sagen, die Deutschen seien immer noch besonders anfällig für Antisemitismus,
dann halten sich auch die Deutschen selbst für sehr antisemitismusgefährdet –
dabei könnte man darauf verweisen, dass ein Drittel der Franzosen den Antisemiten Le Pen am liebsten als Staatspräsidenten gehabt hätten, dass aber bei uns
der Abgeordnete Hohmann und der General Günzel sehr schnell aus ihren Ämtern
entfernt wurden.
Wenn
Deutschland ein Mensch wäre, würde man sagen: Was ist eigentlich mit seinem
Selbstwertgefühl? Hätte man nicht über diesen Staatssekretär auch einfach
lachen können? Hätte man nicht ganz gelassen fragen können: Hey, was ist das
für ein seltsamer Idiot? Hoffentlich liegt er am Strand nie neben mir...
Nein, gelassen – das geht
nicht. Wenn unser liebes Deutschland ein Mensch wäre, würde man sagen: Daran
muss er noch arbeiten.
Auf
der anderen Seite: Es hat den Deutschen ja gereicht, das ihr Kanzler nicht nach
Italien gefahren ist in jenem Sommer. Von privater Seite ist mir kein Fall von
Umbuchung bekannt geworden. Und der Kanzler hatte angeblich sowieso in Hannover
bleiben wollen und nur nach einem Vorwand gesucht. So sind wir dann auch
wieder. Sehr pragmatisch hinter dem Grundsätzlichen. Wenn man so will, dann ist
das doch: gelassen.
Herrje,
das ist alles nicht besonders interessant, was? Wirklich interessant finde ich
an den Deutschen nur das Gespaltene, Zerrissene. Dass dieses Land einerseits
immer ein normales Land sein soll wie alle anderen, dass es das aber nun mal
nicht ist, mit seiner Geschichte. Dass es so lange geteilt war und nun wieder
langsam zusammenfindet. Dass es sich selbst manchmal so fremd ist.
Ich
bin Deutscher. Das habe ich mit 82 Millionen Menschen gemeinsam.
Es ist bloß... Das
Gemeinsame interessiert mich persönlich nicht besonders, nirgends. An den
Menschen ist doch nur das Besondere von Bedeutung, das Gemeinsame verströmt
immer eine Langeweile, etwas Nivellierendes, Gleichmachendes, Einebnendes. Wenn
einer auf Reisen war, in Asien, Amerika oder sonst wo in der Welt, und er kommt
zurück und erzählt mir von „den Asiaten“ oder „den Amerikanern“, ach bitte, da
steigt in mir ein Gähnen auf.
Wenn
er aber sagt: Weißt du, da habe ich einen getroffen, der war Japaner, und von
dem muss ich dir eine Geschichte erzählen...
Schon beuge ich mich
vor und lausche.
Von dem Schauspieler
Walter Schmidinger, einem Österreicher, habe ich mal ein Interview gelesen, in
dem er auf die Frage antwortete, was er als sein größtes Talent empfinde.
Schmidinger sagte: „Mein größtes Talent ist es, bewundern zu können. Ich
bewundere an Menschen ihre Liebesfähigkeit, ihre Einsamkeit, ihre Verzweiflung
und Not, ihre Hoffnungen, ihren Irrsinn. Ich bewundere, wie jeder Mensch in
seinem Leben, in seinem Beruf besteht, wie er das aushält, was er
bewerkstelligt, was er macht, was er wünscht und was ihm nicht gelingt. Ich
bewundere das. Restlos.“
Ist das nicht ein hinreißender
Satz?
Aber was hat er mit
Deutschland zu tun?
Es
ist so: Ich bin Deutscher seit 48 Jahren, ich habe fast immer unter Deutschen
gelebt, es gibt keine Sprache, die ich besser spräche. Es gibt hier die Berge
und das Meer, es gibt die Heide und das Moor, es gibt Seen und Flüsse, und es
gibt Landschaften, von denen ich ohne zu zögern sagen würde, dass ich sie
liebe. Es gibt hier eine Sprache, die mich entzückt und deren Variationsfähigkeit
in sehr vielen Dialekten ... Ach, das ist einfach wunderbar! Bitte, wenn wir
uns zum Beispiel über die Präpositionen im Bayerischen unterhalten würden, über
den Gebrauch so wunderbarer kleiner Wörter wie auffe, umme, obe,
hintre und
füre... Ich mag das, endlos. Und ich mag den Sound des Deutschen, in Gedichten
von Rilke oder meinetwegen auch Freiligrath, bitte, sehen Sie selbst nach, auf
Seite 169 dieses Buchs.
Aber
das ist es nicht. Worauf es wirklich ankommt, ist etwas anderes: Nirgends kann
ich die Liebesfähigkeit der Menschen, ihre Einsamkeit, ihre Verzweiflung und
Not, ihre Hoffnungen und ihren Irrsinn besser verstehen, ihre Voraussetzungen
besser nachvollziehen, ihre Bedingungen besser einordnen, ihre Konsequenzen
besser absehen als in Deutschland. Nirgends kann ich besser nachfühlen, was
einen Menschen treibt in dieser Welt, was ihn bedroht und was er liebt, was ihn
oberflächlich werden lässt und was ihn in der Tiefe bewegt, was seine Seele
öffnet und was sie verschließt.
Ich
wünschte, ich könnte das auch in Italien oder Frankreich oder Amerika. Aber
eigentlich kann ich es nur in Deutschland. Das Gemeinsame ist sozusagen die
Voraussetzung, um das Besondere wirklich zu verstehen.
Darauf kommt es mir
an, wenn ich sage, dass ich Deutscher bin.
(Hacke, 10-15)
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