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Verschiedene Textsorten

Im folgenden Text schreiben zwei Wissenschaftler (ein Deutscher und ein Pole) über die deutsche Einheit.

Berlin - eine historisch-moderne Stadt im Jahre 2006

(Foto: Tatár, 2006)

1. Aufgabe

Lesen Sie die beiden Texte, und beantworten Sie die Fragen!

Welche Ereignisse aus der Geschichte werden mit der Zeit nach der Wiedervereinigung erwähnt? Aus welchem Grund?
Welche Rolle von Deutschland in der europäischen Politik wird in dem Artikel skizziert?
Wo sehen Sie Unterschiede in der Wahrnehmung der deutschen Einheit zwischen den beiden Wissenschaftlern?

 Text 1

Alfred Grosser blickt auf den Vereinigungsprozess 1990 zurück, der nichts anderes war als die erste Ost-Erweiterung des freien Europas

Berlin 1990, die große Feier im Reichstag, der Festakt zur Wiedervereinigung. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hält seine würdige und freudige Rede. Er dankt ausdrücklich und mit Wärme einem unter den deutschen Politikern im Saal sitzenden Ausländer: Jacques Delors. Der Franzose hatte als Präsident der Europäischen Kommission von Brüssel aus alles getan, um die deutsche Wiedervereinigung zu erleichtern. Delors hatte das Wesentliche begriffen, nämlich dass die Erweiterung des freien deutschen Staats die erste Ost-Erweiterung des freien Europas darstellte.

Eine tiefe, schöne Bedeutung hatte dabei, dass der Artikel 23 und nicht der Artikel 146 des Grundgesetzes Anwendung fand. 1945 hatten die Siegermächte weder Deutschland abgeschafft noch mit einer deutschen Regierung verhandelt. Sie haben die deutsche Souveränität gemeinsam „beschlagnahmt“. In diesem Sinn standen Bundesrepublik und DDR auf der gleichen Ebene der Legitimität. Aber die Bundesrepublik war auf der Freiheit aufgebaut worden, die DDR nicht. Hätte man den Artikel 146, den letzten der Verfassung, verwendet („Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“), so wären beide Staaten, Bundesrepublik und DDR, zusammen aufgelöst worden. Artikel 23 aber („Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern [. . .]. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“) bedeutete die Ausdehnung der Freiheit der Deutschen bis an die polnische Grenze.

Auch die meisten Erweiterungen der heutigen Europäischen Union sind im Namen der Freiheit zugelassen worden. Durch einen Zufall der Geschichte konnten Griechenland, Spanien und Portugal beinahe zur gleichen Zeit 1974/75 der Diktatur entrinnen. Die jungen Demokratien wollten durch die Mitgliedschaft in der freiheitlichen Gemeinschaft gestärkt werden. Dies und nicht die Wirtschaft war der Hauptgrund der Erweiterung von 9 auf 12. Am 1. Mai 2004 sind die Mehrzahl der zehn Neuen aus dem Grund aufgenommen worden, den Robert Schuman schon 1963 nannte: „Wir müssen Europa schaffen, nicht nur im Interesse der freien Völker, sondern auch, um die Völker im Osten aufnehmen zu können, die, von der Unterwerfung befreit, die sie bisher ertragen müssen, uns um ihren Beitritt und unsere Unterstützung ersuchen werden.“

Fünfzehn Jahre schon oder fünfzehn Jahre erst? Beides ist berechtigt. Wenn auch ein Gefälle zwischen Ost und West bleibt, einen Grund zum Feiern gibt es für alle. In den gar nicht mehr so neuen Ländern, wenn man wahrnimmt, wie unfrei man vor 1990 gewesen ist. In Westdeutschland, wenn man einsieht, welches Glück man gehabt hat, durch einen Zufall der Geschichte in Freiheit und Wohlstand gelebt zu haben – und wenn man sich solidarisch über die Freiheit im Osten freut.

Großspurig ist die Bundesrepublik seit 1990 nie geworden. Und sie hat nie ihre Besonderheit verloren, die sie bewahren sollte und den anderen EU-Staaten als Modell vorführen kann: Nur die Bundesrepublik ist nicht auf der Idee der Nation errichtet worden, sondern auf einer politischen Ethik – der doppelten Ablehnung des Nazismus in der Vergangenheit und des Stalinismus in der Nachbarschaft.

Text 2

Janusz Reiter über die Stärkung Europas durch die deutsche Einheit und die zentrale Rolle Deutschlands in der erweiterten Union

Die Kernfrage, vor der Deutschland und Europa vor 15 Jahren standen, lautete: Was tun, damit die Vereinigung Deutschlands Europa stärkt, anstatt es zu schwächen? Die westlichen Nachbarn, vor allem Frankreich, stellten die Frage mit der Sorge um die politische Balance. In Paris wollte man verhindern, dass das für das französische Selbstverständnis so wichtige Gleichgewicht der Kräfte zwischen den zwei großen Staaten Westeuropas gestört wurde. Wer die europäische Geschichte kennt, kann sich darüber kaum wundern.

Östlich von Deutschland gab es andere Sorgen. Polen wollte vor allem die Gewissheit haben, dass seine Westgrenze endgültig bestätigt würde. Aber die deutsche Vereinigung wurde in Ostmitteleuropa nicht nur mit Angst, sondern auch mit Hoffnungen begleitet. Bereits Ende der 1970er Jahre und vor allem in den 1980er Jahren wurde in Polen der enge Zusammenhang zwischen der deutschen Einheit und der polnischen Freiheit erkannt und diskutiert. Im gewissen Sinne ebnete die 1980 entstandene Solidarnosc den Weg zur Vereinigung Deutschlands. Aber die deutsche Einheit öffnete Polen den Zugang zum Westen: Ohne das vereinigte Deutschland wäre der Weg zur Nato und zur Europäischen Union für die ostmitteleuropäischen Völker versperrt gewesen.

Ja, Europa ist durch die deutsche Einheit gestärkt worden. Die Sorgen von 1989/90 sind fast vergessen. Es gibt kein Problem einer deutschen Übermacht in Europa. Auch das größere Deutschland hat sich in die westlichen Integrationsstrukturen eingefügt. Es gibt keine deutsche Frage mehr, die den Deutschen und den anderen Europäern Kopfzerbrechen bereiten muss. Das ist wohl die erfreuliche Bilanz von 15 Jahren deutscher Einheit. Was offen bleibt, ist die Frage nach der weiteren Entwicklung Europas. Nach dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedern ist die Europäische Union nicht nur größer, sondern auch vielfältiger geworden. Die Union muss ihre innere Statik neu bestimmen sowie ihre Stellung in der Welt. Deutschland muss dabei eine Rolle spielen, die seinem Potenzial und seiner geografischen Lage entspricht, das heißt eine zentrale Rolle. Deutschland ist das Land, das eine ausgeprägte West- und Ost-Kompetenz hat. Es hat ein traditionelles Vertrauensverhältnis zu Frankreich, wird aber auch in Polen geschätzt. „Vernachlässigt“ Deutschland einen dieser Partner, so verändert sich das ganze europäische Koordinatensystem. Das gleiche gilt noch mehr für die Rolle der Bundesrepublik im transatlantischen Verhältnis.

15 Jahre nach der Vereinigung gibt es keine Angst vor Deutschland mehr. Das Problem heute sind vielmehr die deutschen Ängste. Viele Deutsche blicken besorgt in die Zukunft. Diese – wohlgemerkt relative – Schwächeperiode wird und darf nicht lange dauern. Europa braucht Deutschlands wirtschaftliche wie politische Kraft. Dieses Land ist ein „indispensable partner“, auch für seine östlichen Nachbarn. Sie brauchen ein Europa der Solidarität – der finanziellen und nicht weniger der politischen. Die Alternative ist ein Auseinanderdriften der Union. Das zu verhindern ist eine gemeinsame Aufgabe. Ohne Deutschland werden wir sie nicht bewältigen.
(Grosser / Reiter, 2005
http://www.magazine-deutschland.de/issue/Essay_4-05.php)

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