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Lebensgeschichten

1. Aufgabe

Hinter jedem geschichtlichen Datum können wir Schicksale von Menschen sehen. Die Historiker erforschen die Geschichte mit Hilfe von geschriebenen Quellen (Grundbüchern, offiziellen Berichten, verschiedenen Briefen) und – wenn es möglich ist – befragen sie Zeitzeugen, die den erforschten Zeitraum erlebt haben. Im Folgenden können Sie einen Teil eines Gesprächs aus dem Jahr 2004 lesen. Das Gespräch fand im Rahmen einer Konferenz in Berlin statt. Die Personen, die in diesem Abschnitt vorkommen:

Paul Kárpáti (Berlin), literarischer Übersetzer, Kulturschaffender,
Andreas Oplatka (Zürich) und Ungváry Krisztián (Budapest),
beide Historiker,
Wilhelm Droste (Budapest), Dozent für Germanistik, Übersetzer, Kulturschaffender.

A/ Notieren Sie während des Lesens die genauen Daten oder die Perioden, die Orte, die geschichtlichen Ereignisse und wenn möglich, die Bedeutung dieser im Leben von Paul Kárpáti und Wilhelm Droste. Diskutieren Sie anschließend in der Gruppe, wie diese geschichtlichen Ereignisse das Leben der beiden Personen beeinflusst haben und ob die Einzelnen überhaupt die Chance haben, negativen Ereignissen gegenzusteuern.

 

Datum/Periode

Orte

Ereignisse

Bedeutung im Leben der Person

Paul Kárpáti

 

       

Wilhelm Droste

 

       

B/ Andreas Oplatka und Krisztián Ungváry sind Historiker, die das Gesagte aus einer anderen Perspektive beobachten/beleuchten. Was tragen Sie zum Verständnis der Geschichte bei? Was fällt Ihnen bei den Formulierungen der beiden Historiker auf?

Oplatka: Paul Kárpáti entstammt dieser Minderheit. Kaum jemand, der Ungarn unfreiwillig verlassen musste, hat so viel für Ungarn getan wie er. Ich möchte hier die Stichworte ‚Bindeglied’ und ‚kulturell’ in die Runde werfen ...

Paul Kárpáti: Ja, ich nehme sie auf. Ich greife diese Stichworte einerseits gern auf, aber ich könnte auch sagen: ungern, denn die Erinnerungen sind nicht immer so erfreulich, dass man sich gern erinnern würde. Ich wurde 1947 als 14-Jähriger mit meinen Eltern umgesiedelt, man kann auch sagen: vertrieben, denn der Vorgang selbst war ein Vorgang der Vertreibung in die damalige sowjetische Besatzungszone. In Pirna, bei Dresden gab es ein Quarantänelager, ein Auffanglager für ausgesiedelte Vertriebene aus den osteuropäischen Ländern, und unsere Familie ist dort geblieben, in Pirna, wo meine Geschwister auch heute noch leben. Dieses Erlebnis war schon traumatisch. Ich habe erst sehr spät identifizieren können, was in meinem Verhältnis zu meinem Heimatdorf problematisch war, was mich fast davon fernhielt, dorthin wieder zurückzukehren und das Haus wieder sehen zu müssen, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte. Jetzt ist es übrigens so weit umgebaut, dass es mich nicht mehr stört, und ich bin heilfroh, dass es mich nicht mehr stört, ich muss nicht mehr daran denken, dass wir da zu Hause waren. Das Haus sieht so aus, dass ich das nicht mehr zu sehen brauche, und so gibt es mit der Zeit Befreiung von den Problemen, die jetzt hier angedeutet wurden: Identitätsprobleme, d.h. einer Minderheit anzugehören, die so etwas wie ein Mutterland hat. Ich finde es, nebenbei gesagt, ein bisschen problematisch formuliert, dass man Deutschland aus sprachlichen Gründen Mutterland nennt, denn dann müsste man natürlich sagen, das Vaterland ist Ungarn. Man sollte die Eltern nicht scheiden, wenn sie sich nicht selbst sowieso öfter einmal scheiden lassen. In diese Zwangslage zu kommen, ist ein ungutes Gefühl. Es ist ja weniger ein Bewusstsein. Sobald einem das alles richtig bewusst wird, ist es schon fast überwunden, und trotz äußerer Versuche, meine Identität zu bestimmen, trotz der Versuche, mir eine Fremdbestimmtheit aufzuzwingen und mir zu sagen, wer ich eigentlich bin, finde ich mich im Stillen damit ab, dass ich, je nach Gemütslage, mich in meinem Bewusstsein so oder so identifiziere. In Ungarn als Schwabe zu gelten, das war eigentlich immer so etwas wie eine Abwertung. Es war etwas Minderwertiges, und das Deutsche war etwas anderes. Und man darf nie vergessen, dass die ungarischen Schwaben, die Ungarndeutschen, im Unterschied zu, sagen wir mal, Sudetendeutschen oder Ostpreußen, nie deutsche Staatsbürger gewesen sind, es sei denn in ihrem Vorleben in Hessen oder in Baden. Insofern haben sie von vornherein ein anderes Bewusstsein gegenüber dem Land, in dem sie wohnten, lebten usw. Das Deutsche war eigentlich etwas – ich bin protestantisch aufgewachsen –, das nur in der Kirche stattfand. Dort wurden die Kirchenlieder deutsch gesungen. Der Pfarrer in unserem Dorf zum Beispiel hat bis 1945 oder 1944, dann ist er nämlich vor der Front geflüchtet, deutsch gepredigt, denn die Mehrheit in unserem Dorf war deutsch. Es war also ein ausgeglichenes, auch innerlich ausgeglichenes Minderheitenleben, wenn man in einem Dorf lebte, das ganz überwiegend deutschsprachig war – aber mit einer lokalen Mundart. Dieses Deutsch oder dieses Schwäbisch, wie es etwas herabwürdigend genannt wurde, war etwas anderes als das, was in unserer Mundart Taitschlerr genannt wird. Ein Taitschlerr ist ein Deutschländer. Das ist ein Unterschied zu deutsch, denn von Dorf zu Dorf war auch das Verhältnis zu anderen Ungarndeutschen anders, abhängig von der Konfession, aber auch von anderen Dingen, Trachten und vielem anderen. Die Kommunikation war ja auch nicht so eng, über zehn bis zwanzig Kilometer hinweg war das schon ein Problem. Bei uns im Dorf zum Beispiel wurde gesagt, die Schwowe, die sind die anderen, dort in Nagyszékely, zwanzig Kilometer entfernt von uns, wir dagegen sann taitsche Leit. Es gab also auch noch eine Identifikation mit deutsch, aber nur im Unterschied zu anderen Schwaben. Die Dinge sind also doch so kompliziert, dass man erkennt, dass die Situation nicht beneidenswert ist. Diese Identitätsprobleme werden dann mit der Integration, in deren Verlauf der Integrierte mit seiner Ethnie am besten verschwinden soll, noch verschärft. Das ist schwierig für die Objekte, für diejenigen, mit denen es gemacht wird. Sie werden bestimmt, durch eine Behörde eingeordnet in irgendein Fach und haben dann so zu sein. Sie sind aber nicht so. Still in sich hinein sagen sich sicher viele: „Ich bin eigentlich ein Deutscher”, ob man es ihnen glaubt oder nicht. Und so gab es und so gibt es eben Ungarndeutsche, die für sich sagen: „Eigentlich bin ich Ungar, was soll ich mit den Deutschländern? Ich bin kein Taitschlerr, ich bin hier aufgewachsen. Für mich sind die drei Farben rot, weiß und grün die Nationalfarben.”

Aber ehe ich jetzt Ihre Geduld zu sehr in Anspruch nehme, möchte ich nur noch eines sagen: Die Situation der ungarischen Minderheit zum Beispiel in Siebenbürgen ist eine in vielerlei Hinsicht andere. Es gibt ein nationales ungarisches Interesse daran, dass die Ungarn dort als Ungarn mit ungarischer Kultur erhalten bleiben und nicht integriert werden. Die Ungarn dort in Siebenbürgen, in Rumänien, sollen nicht integriert werden. Im Gegenteil, desintegriert sollen sie werden, wenn sie schon zu sehr integriert sind. Und die Minderheiten in Ungarn, auch die sollen bitte schön ihre nationalen Besonderheiten wahren – aber warum? Damit das in Siebenbürgen mit den Ungarn auch so geschehen kann. Es gibt also ganz unterschiedliche Motivationen für die Bewahrung der nationalen Identität. Nur: Wie soll denn jemand, der als Ungar in Budapest oder Szeged im Interesse seiner Nation, seiner Nationalität, seiner Ethnie etwas tut, denkt, überlegt, da noch unterscheiden können? Im Grunde genommen gehen aber die Bestrebungen doch auch dahin, dass so etwas wie eine Integration stattfindet, und man behindert es nicht.

Oplatka: Es ist ja jetzt viel Böses über den ungarischen Assimilations- und Integrationswillen gesagt worden. Ich bin ein Halb-Außenstehender. Ich kenne Ungarn immerhin nicht ganz schlecht, und ich möchte jetzt einmal zumindest den Versuch wagen, eine Gegenposition zu formulieren. Mit kommt es vor, aber ich wähle meine Worte vorsichtig, mir kommt es vor, als wäre es in Ungarn so, und dies im Gegensatz zu Polen oder zur Tschechoslowakei, dass doch eine Mehrheit der heutigen ungarischen Bevölkerung, soweit sie die Vertreibungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt noch kennt, eher der Meinung zuneigt: „Mein Gott, hätten wir doch die Deutschen wieder.” Ist das so?

Ungváry: Ja, das ist sicher so, dass man diese Leute am liebsten zurückhaben würde, aber dahinter steckt auch die historische Erfahrung, dass diese ungarndeutschen Dörfer ja kein ethnisches Problem darstellen, weil sie ja assimiliert werden können. Man hatte vor diesen Leuten nie Angst, weil sie die schnellsten Opfer der Assimilation waren. Das heißt, das Zurückwünschen der deutschen Volksgruppe, das Zurückwünschen der vertriebenen 200.000, bedeutet nicht, dass auch gewünscht würde, dass diese Volksgruppe dann „desintegriert” leben sollte wie meinetwegen auch meine Verwandten in Siebenbürgen, die sich nicht rumänisieren lassen wollen. Das Zurückwünschen hängt nur damit zusammen, dass man mit den Deutschen in Ungarn eigentlich immer nur gute Erfahrungen gemacht hat. Sie haben sich auch lange nicht gegen die Assimilationsbestrebungen gewehrt und nicht wehren können.

Oplatka: Herr Droste ...

Wilhelm Droste: Herr Kárpáti hat so anschaulich vom Trauma seiner Vertreibung gesprochen, jetzt möchte ich vom Traum meines Selbstvertreibens sprechen. Ich habe mich nämlich in der Hoffnung, mich in Ungarn in meiner eigenen Identität zu retten, Anfang 1989 aus Hamburg selbst vertrieben, weil ich immer glaubte, die Ungarn seien die Meister im Identitätsbewahren. Ich hatte immer das Gefühl, das sei ein Volk mit erstaunlich gesunder Identität. In den letzten 15 Jahren musste ich darauf kommen, dass die Ungarn im Grunde genommen nur in der Negation identitätsfähig sind. Wenn sie einen großen Gegner haben, über den es sich laut stöhnen lässt, dann sind sie großartig, aber wenn es sozusagen einen Integrationsprozess in die Selbstverständlichkeit der Modernisierung gibt, der eigentlich mit dem Datum 2004 offiziell besiegelt ist, wenn sie sich dann sozusagen ganz langweilig der Welt anpassen müssen, dann sind sie meines Erachtens keine großen Meister der Identität. Diese Auffassung beruht auf meiner persönlichen Erfahrung, aber vielleicht rechne ich mir auch meine persönliche Müdigkeit, die ich mir in letzten 15 Jahren zugezogen habe, unredlich hoch und halte sie für repräsentativ. Also, ich glaube, im Moment ist die ungarische Identität eine ziemlich verschwitzte, müde Identität. Ein sehr wichtiger Aspekt für die Stimmung, die es vor 1989 in dem Land gab, besteht ja auch darin, dass es gerade für Ost- und Westdeutsche ein Paradies der Begegnung war. Das ist eine unglaubliche Leistung, die ich für bedeutender halte als diese Stacheldrahtdurchtrennung, denn da ist im Grunde genommen etwas zusammengewachsen, wofür es keinen Raum gab. Budapest und der Balaton waren einfach großartige Landschaften deutsch-deutscher Begegnungen, die es heute auch nicht mehr gibt. Man müsste im Grunde genommen diesen Balaton und dieses Budapest wieder neu erfinden, weil diese Landschaften heute nicht mehr das leisten, was sie vor der Wende geleistet haben.

Vielleicht noch zur Identität: Ich habe relativ schnell eine Ungarin geheiratet. Ich habe 1972 meinen ungarischen Fimmel begründet, dann bin ich leidenschaftlich mindestens immer vier Monate pro Jahr in Ungarn gewesen, und dann kam 1989, da war es dann soweit, ich hatte eine feste Stellung und dann auch eine Frau dazu, dann bekam das Ganze auch so eine sexuelle Dimension, ich leugne das nicht ab. Und nun gibt es auch Kinder, und mein Sohn hat das einmal für mich sehr utopisch, sehr schön formuliert: Wir waren in einem Trödelladen, und als der Händler merkte, dass er irgendwie nicht ganz Ungar war, fragte er ihn, wer er denn eigentlich sei. Da sagte der Kleine mit dem Stolz eines Indianers: „Ich bin ein Halbblut.” Und das erscheint mir politisch als eine sehr schöne Tendenz. Also: Ich plädiere für Halbblüte.
(Deutsches Kulturforum, 34-41)

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