2. Aufgabe
Die Schriftstellerin Margot Wieser gab
im Jahre 2001 ein Buch mit dem Titel „Stiller Aufbruch“ heraus (das 2004 ins
Ungarische übersetzt wurde). In dem Buch erzählen dreizehn ungarische Frauen
über ihr Leben, über die Wende 1989, über die gesellschaftlichen Veränderungen
in Ungarn und über die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart sowie
Individualgeschichten und der realen Geschichte. Hier finden Sie drei
Textausschnitte von drei Frauen unterschiedlichen Alters und Berufes, die Anfang
der 90er Jahre ihre Wahrnehmung über die Wende in Ungarn der in Ungarn lebenden
österreichischen Autorin in längeren Interviews geschildert haben.
Lesen Sie die Ausschnitte durch und formulieren Sie, welche
Fragestellungen die Frauen ansprechen. Diskutieren Sie in der Gruppe, ob diese
Fragen heute noch aktuell sind, oder bereits als Teil der neuen ungarischen
Geschichte angesehen werden sollen. Muss man jede Person, jeden Hinweis kennen,
um die Lebensgeschichte der Frauen verstehen zu können?
„Die größere Wende ist schon in dem letzten kommunistischen
Regime unter Miklós Németh, Gyula Horn geschehen. Das sind für mich größere
Politiker als die jetzigen, denn die haben die Öffnung ermöglicht, die haben’s
erreicht, dass wir wirklich die Visumfreiheit in den Westen bekamen. Sie haben
die größeren Handelsbeziehungen geschaffen, größeren Austausch, sie haben die
DDR-Bürger hier rausgelassen, sie haben innerhalb ihrer kommunistischen Partei
die Spaltung hervorgerufen und Reformen in die Wege geleitet. Sie haben viel
mehr gemacht, auch der Pozsgay, der jetzt ganz weg ist. Und die, die jetzt
gekommen sind, haben auch einfach keine Übung. Wenn man im Fernsehen eine
Parlamentssitzung sieht, hört man soviel dummes Zeug, das überhaupt nicht dahin
gehört. Sie können sich drei Tage lang streiten, wie groß jetzt die neue Flagge
werden, ob die Krone schief oder gerade stehen soll, also solche lächerlichen
Sachen, die in einer richtigen Demokratie sicherlich nicht im Parlament
besprochen werden, sondern viel früher.“
(Wieser, 47-48)
„Der Mensch ist nicht allmächtig, so ist es nun einmal. Im
Januar 1990 ist mein Mann an einem Herzinfarkt gestorben. […] Dann kam der
Wechsel, die Wende, die Antall-Regierung. Ich hatte es auf einmal doppelt so
schwer. Ich hätte zwar bei einer Wochenzeitung eine gut bezahlte Stelle als
Redakteurin bekommen. Wir hatten uns schon geeinigt, dass ich dort anfange. Ich
kam mit meinem Arbeitsbuch dort an, und der Chefredakteur fragte mich, Du
trittst doch ein, und ich sagte ja, deshalb bin ich hier. Dann hat er gesagt,
nicht nur als Kollegin trittst du ein, sondern auch in die Partei, in das MDF.
Ich war sehr empört. Ich wollte meine Unabhängigkeit unter allen Umständen
bewahren. Ja, und was ist das für eine Zeit, wo nicht die Arbeit zählt, die man
auf den Tisch legt, sondern nur, in welcher Partei man ist. An einer anderen
Stelle bin ich wegen meines Mannes nicht genommen worden. Er war nämlich ein
guter Freund von Kádár, noch aus der Jugendzeit. Bis zu seinem Tod waren sie
gute Freunde, und mein Mann war auch in der Kommunistischen Partei. Noch zweimal
ist es vorgekommen, dass ich eine Arbeit nicht bekommen habe, weil mein Mann
Parteimitglied war. Ich habe mir gedacht, es interessiert mich nicht, auch wenn
ich verhungern muss, ich werde ihn nicht verleugnen. Er war ein Teil meines
Lebens, und zwar der schönste Teil meines Lebens, und wegen solcher Dummheiten
werde ich ihn nicht verleugnen. Dann habe ich keine andere Wahl gehabt, ich habe
bei Neureichen geputzt und ziemlich gut vom Geld gelebt. Es war wirklich eine
schicke Sache, dass man sagen konnte, meine Putzfrau ist eine Schriftstellerin.“
(Wieser, 66-67)
„Das erste, was ich nach der politischen Wende feststellen
konnte war, dass es viel mehr Nachtlokale und einfach Orte gab, wo man hingehen
kann. Das ist persönliche Freiheit, gibt einem das Gefühl, dass der öffentliche
Raum größer geworden ist. Andererseits diese stärkere Unsicherheit auf der
Straße. In den Jahren um 1989/90 hatten wir in Ungarn sehr, sehr schöne
Erlebnisse, weil man dachte, es verändert sich alles, alles wird besser, wenn
auch nicht ideal, aber besser wird es sicherlich. Die Enttäuschung danach war
ziemlich groß. Eher dass man alles lässt und nicht politisiert. Ich habe mir
danach auch gedacht, dass das, was wir an sozialer Sicherheit vorher hatten,
sehr wichtig ist. Jetzt spüre ich es noch stärker, weil ich die Armen und
Obdachlosen auf der Straße sehe, und das kann jetzt jedem passieren. Ich glaube
schon, dass dies das kommunistische System im Kopf wieder belebt, nicht als
gesellschaftliches System, aber als Anspruch auf diese soziale und existentielle
Sicherheit.“
(Wieser, 212-213)
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