Literarische Texte
1. Aufgabe
Lesen Sie den Text, und notieren Sie
während des Lesens jedes Wort, was Ihnen einfällt, am Textrand. Die Autorin,
Renate Welsh (geb. 1937) ist österreichische Kinderbuchautorin.
Renate Welsh: Familiengeschichte
Hausmitteilung eines Personalchefs an
den Firmeninhaber
Der Hilfsarbeiter Mirko M. bringt am 17.8. ein Telegramm und
bittet um ein paar Tage Urlaub. Seine Mutter liegt angeblich schwer krank im
Spital. Er hat keinen Urlaubsanspruch, ich lehne daher ab. Bekanntlich weiß man
bei den Leuten nie, ob diese Familiengeschichten stimmen, heute ist es die
Mutter, morgen der Onkel, übermorgen die Tochter. Am nächsten Tag erscheint M.
nicht zur Arbeit, auch am übernächsten nicht. Rückfrage im Gastarbeiterquartier
ergibt, er sei heimgefahren. Eine Woche später kommt er zurück und will wieder
arbeiten. Ich beantrage seine Entlassung. Man kann diese Dinge einfach nicht
einreißen lassen.
(Welsh, 47)
2. Aufgabe
A/ Vergleichen Sie die aufgeschriebenen Wörter mit
denen Ihrer Nachbarin/Ihres Nachbarn.
B/ Der Text ist eine Mitteilung, ein
quasi-Geschäftsbericht. Markieren Sie die sachlichen Stilelemente im Text.
Besprechen Sie Ihre Ergebnisse in der Gruppe.
C/ Beantworten
Sie die folgenden Fragen:
Wie hätten Sie an
Stelle von Mirko M. gehandelt?
Was hätten Sie an
Stelle des Personalchefs gemacht?
Was bedeutet der
letzte Satz der Geschichte eigentlich?
Die Geschichte stammt
aus den späten 70er Jahren. Was glauben Sie, kommt so etwas auch heute noch vor?
3. Aufgabe
A/ Lesen Sie den ersten Teil der folgenden Erzählung,
und notieren Sie, wie der Mann, den der Autor nicht kennt, aussieht. Wer kann
dieser Mann sein? Schreiben Sie Ihre Idee(n) auf.
Franz Hohler: Die Fotografie
Als ich vor einiger Zeit beim Durchblättern eines Fotoalbums
auf ein Bild von der Hochzeit meiner Eltern stieß, verweilte ich etwas länger
dabei. Ich wollte wissen, wen ich alles kannte, auch interessierte mich, da ich
inzwischen selbst geheiratet hatte und bereits älter war als das Paar auf der
Hochzeitsfotografie, ob mir die Eltern nun jünger vorkämen als ich mir selbst.
Es war mir aber nicht möglich, die beiden so anzusehen, als ob sie mit mir
nichts zu tun hätten, als ob sie nicht gerade die wären, die immer älter waren
als ich, und wäre es mir gelungen, wären sie mir wohl trotzdem nicht richtig
jung erschienen, da man der Kleidung der Abgebildeten und ihrem Gehaben ansah,
daß sie in eine frühere Zeit gehörten, und Leuten, die in einer früheren Zeit
jung waren, glaubt man zwar, daß sie eine Jugend hatten, aber nicht, daß sie
tatsächlich jung waren.
Das Bild war vor der Kapelle aufgenommen, in der die Trauung
stattgefunden hatte, und außer meinem Vater und meiner Mutter waren darauf meine
vier Großeltern zu sehen, von denen jetzt nur noch zwei am Leben sind, sodann
ein Urgroßvater, den ich nicht mehr gekannt habe und der äußerst unnahbar
wirkte, die Schwester meines Vaters, bereits mit ihrem heutigen Mann, aber etwas
unverbrauchter aussehend, und die zwei Brüder meiner Mutter, der eine noch im
Bubenalter, der andere in Offiziersuniform. Um diesen familiären Kern des Bildes
gruppierten sich die weniger engen Verwandten wie die Geschwister der
Großeltern, die ich nicht alle kannte, und nebst dem Pfarrer einige Freunde des
Paares, die mir zum größten Teil fremd waren. Unter diesen übrigen Leuten fiel
mir vor allem ein Mann auf, der ganz am Rand des Bildes auf einem Steinbänklein
unter einem Baum saß und die Szene betrachtete, als ob er nicht ganz dazugehöre.
Seine Augen waren dunkel und blickten sehr ernst, auf seinem Kopf sah man kein
einziges Haar, und seine Hände waren auf einen Stock gestützt, der mit einem
silbernen Knauf versehen war. Was mir zusätzlich auffiel, war, daß der Mann
weiße Handschuhe trug, was auch in jener Zeit, soviel mir bekannt ist,
ungebräuchlich war. Da ich mich nicht erinnerte, diesen Mann je im Zusammenhang
mit meinen Eltern gesehen zu haben, nahm ich mir vor, meinen Vater gelegentlich
nach ihm zu fragen.
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