B/ Lesen Sie den zweiten Teil
des Textes (bis: „... das Bild aus und schickte das Heft wieder zurück“). Was
erfahren wir von diesem Mann? Notieren Sie kurz! Haben Sie eine Idee, wer dieser
Mann sein kann?
Als ich ihn das
nächstemal zu Hause besuchte, schauten wir sein Album mit den
Hochzeitsfotografien durch, aber auf all den Bildern vor der Kapelle war kein
solcher Mann zu sehen, und mein Vater konnte sich auch an niemanden erinnern,
auf den meine Beschreibung zugetroffen hätte. Wahrscheinlich, meinte er, sei es
ein Passant gewesen, der zufällig vorbeigekommen sei und sich auf das Bänklein
gesetzt habe, die Kapelle liege ja an einem schönen Ort, werde oft aufgesucht
und sei auch das Ziel eines Wanderweges.
Mit dieser Erklärung
war ich nicht zufrieden. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, daß sich der
Mann nur für die Dauer einer Aufnahme auf das Bänklein gesetzt hatte, zudem war
er so festlich angezogen, daß er weder ein Wanderer noch ein Ausflügler sein
konnte, und es schien mir auch, sein Blick enthalte mehr Teilnahme als der eines
gänzlich Fremden.
Als ich dem Vater
wenig später mein Bild zeigen konnte, war er sehr erstaunt, schüttelte den Kopf
und sagte, nie, nie habe er diesen Mann gesehen und möge sich auch nicht
erinnern, daß er ihn auf der Fotografie, die nun in meinem Album klebte,
wahrgenommen habe. Es habe aber nachher, so sagte er, in der gleichen Kapelle
eine weitere Hochzeit stattgefunden, zu welcher vereinzelte Gäste bereits am
Schluß seiner eigenen Feier eingetroffen seien, und er könne sich denken, daß
dies die letzte Aufnahme des Fotografen vor der Kapelle gewesen sei und es sich
bei diesem Mann um einen der ersten Gäste der anderen Hochzeitsgesellschaft
handle.
Mit dieser
Darstellung begnügte ich mich vorderhand, wenn mir auch schwer erklärlich war,
warum ein fremder Gast die Indiskretion begangen haben sollte, sich ins
Schußfeld des Fotografen zu setzen. Auch bekam ich bei wiederholtem Betrachten
des Bildes das Gefühl, der Mann habe etwas mit meiner Mutter zu tun, die kurz
vor meiner Verheiratung gestorben war. Aus der starken Ablehnung meines Vaters
schloß ich, daß auch er etwas ähnliches dachte, doch ich wollte nicht weiter in
ihn dringen.
Meine Frau begann
sich langsam zu beunruhigen, daß ich der Sache soviel Gewicht beimaß, und konnte
nicht verstehen, weshalb ich die Erklärung meines Vaters nicht gelten lassen
wollte. Ich gab dann, nachdem auch Erkundigungen bei Verwandten nichts
eingebracht hatten, meine Nachforschungen auf, obwohl die Frage für mich nicht
gelöst war.
Die Ruhe, die nun
folgte, war aber nur oberflächlich und wurde bald darauf durch einen neuen
Vorfall zerstört. Meine Schwester, die seit kurzem verheiratet war, hatte ein
Kind zur Welt gebracht und hatte mich gebeten, Taufpate zu sein. Ich war
einverstanden, und die Taufe fand in der Kirche des Dorfes statt, in dem meine
Schwester wohnt. Es war eine Feier, an der nur die nächsten Angehörigen des
Elternpaares teilnahmen. Eine Ausnahme bildete ein Freund meines Schwagers, der
eingeladen worden war, weil er gut fotografierte.
Meine Schwester
verschickte nachher an die Teilnehmer des Ereignisses ein Heft, in welchem die
Fotos eingeklebt waren, die dieser Freund von der Taufe gemacht hatte. Sie waren
numeriert, und wenn man eine haben wollte, konnte man am Schluß des Heftes die
dazugehörige Zahl angeben. Mein Blick traf zuerst auf das Bild, das mit der
Nummer 12 bezeichnet war. Es zeigte die Patin und mich vor der Kirche, ich trug
den Täufling in den Armen, und zwei Schritte hinter mir stand der Mann mit der
Glatze und den weißen Handschuhen und blickte mir über die Schulter. Er hatte
die Arme verschränkt, aber so, daß man beide Handschuhe sah. Ein Stöckchen, wie
es auf der Hochzeitsfotografie meiner Eltern sichtbar war, konnte ich diesmal
nicht sehen.
Ich rief sofort meine
Schwester an und fragte sie, ob sie den Mann auf diesem Bild kenne. Ihr war er
jedoch nicht aufgefallen, und da sie die Fotos nicht zur Hand hatte,
telefonierte ich dem, der sie gemacht hatte, nannte ihm die Nummer des Bildes
und fragte ihn nach dem Mann im Hintergrund. Er gab mir zur Antwort, auf seinem
Abzug sei kein solcher Mann im Hintergrund sichtbar, und auch auf dem Negativ,
das er dann auf mein Drängen holte, seien, so sagte er, nur die Patin und ich
und der Täufling. Ich schnitt das Bild aus und schickte das Heft wieder zurück.
C/ Lesen Sie den Text bis zum Ende. Wer ist dieser Mann? Wie
hat sich die Beziehung des Autors zu diesem Mann verändert?
Am seIben Tag beschloß ich, an diesen Tatbestand nicht zu
glauben. Trotzdem verschwand der Mann nicht, wie ich heimlich hoffte, von den
beiden Bildern, und jeder, dem ich sie zeigte, sah ihn ebenfalls. Ich begann nun
auch, was ich früher nie gemacht hatte, mich plötzlich umzudrehen, etwa, wenn
ich auf einem Trottoir ging oder einen Platz überquerte, aber auch, wenn ich in
einem Kino saß oder in einem Laden etwas einkaufte, und sogar, ja dann fast am
meisten, wenn ich mich allein in einem Raum befand. Das Gefühl, jemand schaue
mich an, ergriff mich immer mehr, es kam sogar vor, daß ich nachts im Bett
aufschoß und Licht machte, weil ich glaubte, am Fußende sitze einer und blicke
unverwandt auf mich. Öfters, wenn ich irgendwo ausstieg, auf einem Bahnhof oder
einer Bushaltestelle, war mir, als ob jemand auf mich wartete, und ich mußte
mich zuerst lange vergewissern, ob wirklich niemand da war. Ich war in
beständiger Erwartung, konnte aber trotzdem nicht daran glauben, daß sie sich in
etwas Wirkliches verwandeln würde.
Das ist letzte Woche anders geworden. Als ich auf der hinteren Plattform eines
Tramwagens mit dem Rücken an der Scheibe lehnte, hatte ich wieder das Gefühl,
beobachtet zu werden, drehte mich um und sah im Anhängerwagen den Mann mit der
Glatze und den weißen Handschuhen. Er stand mir gegenüber hinter der Scheibe,
und als ich ihn ansah, hob er die rechte Hand und lächelte mir zu. Ich war
unfähig, mich zu bewegen, und blieb bis zur Endstation im Wagen stehen. Dort
stieg ich aus und ging zum Anhänger, aber es war niemand mehr darin.
Seither habe ich keine Angst mehr. Ich weiß, daß ich diesem Mann nicht entkommen
werde, und ich weiß auch, daß mir die Begegnung mit ihm, die wirkliche
Begegnung, nahe bevorsteht. Wie sie verlaufen wird, weiß ich nicht. Wo sie
stattfinden wird, weiß ich nicht. Warum sie sein muß, weiß ich nicht. Was der
Mann mit mir vorhat, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß kein Zufall möglich ist,
ich weiß nur, daß ich persönlich gemeint bin.
(Hohler, 95-102)
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