Die Generation der 68er spielt seit den
90er Jahren im wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Leben des
deutschsprachigen Raumes eine immer bedeutendere Rolle. In Ungarn sind außer dem
Begriff die Hintergründe, die Ereignisse und die Konsequenzen dieser Bewegung
kaum bekannt, jedoch steht diese Thematik gegenwärtig im Mittelpunkt vieler
Debatten sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz.
2. Aufgabe
A/ Im Folgenden können Sie einen etwas gekürzten
Zeitungsartikel aus dem Spiegel Spezial 2005 bearbeiten, der Ihnen hilft, eine
wichtige Periode der deutschen Geschichte und des Films „Zeit-Worte“ besser zu
verstehen.
Was bedeutet der Titel des Artikels „Gnadenlos und selbsgerecht“? Nennen Sie
Personen, Bewegungen oder Situationen, für die diese beiden Adjektive („gnadenlos“
und „selbstgerecht“) gleichzeitig zutreffen.
B/ „Das Hauptproblem dieser Generation war immer eine getrübte
Wahrnehmung.“ Lesen Sie den Text und suchen Sie Beispiele, die dieses Zitat
verdeutlichen!
C/ Da dieses Thema in Ungarn nicht so sehr relevant
ist wie im deutschsprachigen Raum, fassen Sie einer Freundin/einem Freund,
die/der nicht Deutsch spricht, die wichtigsten Aussagen des Textes auf Ungarisch
zusammen.
D/ Stellen Sie sich vor, in Deutschland wird in
wenigen Jahren die Wende-Generation das kulturelle, wirtschaftliche, politische
und wissenschaftliche Leben prägen. Überlegen Sie sich in Kleingruppen, welche
Konsequenzen diese Tatsache für die Familien, die Wirtschaft und das kulturelle
Leben haben kann.
Gnadenlos und selbstgerecht
Die Generation der 68er wollte die deutsche Gesellschaft
verändern und die Armen der Welt befreien. Heute erkennen viele bei den Aktivisten von damals vor
allem totalitäres Gehabe und erhebliche Wahrnehmungsdefizite. Von Dirk
Kurbjuweit
Er trägt Pantoffeln. Er
sitzt bequem in einem Sessel, hinter ihm ranken sich Zimmerpflanzen um das
Fenster zur Straße. In einer Ecke steht eine Gießkanne. Sein Haar ist grau, das
Gesicht ein bisschen rot. Er trägt einen Vollbart, gestutzt. Er ist eher klein,
rund. Der deutsche Bürger hatte mal eine Menge Angst vor ihm.
Jetzt ist er Rentner.
Bernd Rabehl, Jahrgang 1938, war einst der engste Vertraute von Rudi Dutschke,
dem Anführer der Studentenbewegung, dem Helden von „68“, dem Mann, der nie
aufhört ein deutsches Thema zu sein. Derzeit wird darum gestritten, wie Rudi
Dutschke zur Gewalt stand.
Rabehl hat gerade ein
Bild von Dutschke in seine Küche gehängt. Sein Mund, sagt er, sehe darauf aus, „als
würde da ein Schnuller reinpassen". Er sei „ein typisches Muttersöhnchen“
gewesen, habe seiner Mama jeden Tag einen Brief geschrieben.
„Ich war ja eher der
Sancho Pansa, Dutschke der Don Quijote", sagt Rabehl. „Dadurch habe ich ihn auch
überlebt." Er guckt zufrieden. „20 Jahre, nein, schon über 25 Jahre", sagt er.
Dutschke wurde am 11.
April 1968 von einem Gegner der Studentenbewegung niedergeschossen. 1979 erlitt
er einen epileptischen Anfall – Spätfolge des Attentats – und ertrank in seiner
Badewanne.
„Nie wäre jemand auf
die Idee gekommen, auf mich zu schießen“, sagt Rabehl. „Nie hat es jemand in
Deutschland gewagt, mir eine ordentliche Professur zu geben“, sagt er wenig
später. „Ich habe leider keine großen Analysen geschrieben, habe mich so
durchgemogelt.“
„Ist ja okay“, sagt er.
Die „68er“, das sei
eine „junge Intelligenz“, gewesen, die „ihre Ideen religiös aufgepumpt und mit
Hass gearbeitet“ habe. „Die Mehrheitsgesellschaft ist so nicht ansprechbar“,
sagt Rabehl, „wir hatten keine Chance, die Welt so verändern zu können.“
Ist das die Bilanz? Ein
vergeblicher Aufstand, angeführt von einem Muttersöhnchen mit Schnullermund?
Dafür all die Kämpfe, all die Debatten, all die Toten?
Es gibt in Deutschland
keine Chiffre, die so viele Emotionen weckt wie „68“. Die heiße Phase des
Protests begann am 2. Juni 1967, als ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg
erschoss. Ohnesorg hatte gegen den Schah von Persien demonstriert, der Berlin
besuchte. Unter der geistigen Führung Dutschkes stritten linksgesinnte Studenten,
die so genannte Außerparlamentarische Opposition (Apo), für eine andere
Gesellschaft, ein anderes politisches System, einen anderen Umgang mit der
braunen Vergangenheit.
Ende der sechziger
Jahre zerfiel die Studentenbewegung, aber der Kampf ging weiter, in
kommunistischen Gruppen, in der SPD, später auch bei den Grünen, in Familien, in
Schulen, in Behörden, an Universitäten, in der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“
(RAF).
Für die Generation der
68er war und ist ein Wort zentral: Kritik. Ihre Philosophie war die kritische
Theorie, ihre Haltung war die der Kritik an allem, was bestand. Jetzt ist die
Erinnerung an „68“ dran, die Kritik der Kritik. Am liebsten machen sie das
naturgemäß selbst. Es war ihre Rolle, und sie bleibt es. Bernd Rabehl will sich
da von niemandem übertrumpfen lassen.
Vielleicht grinst er
auch deshalb so mokant, als der Name Sophie Dannenberg fällt. Ihr Roman „Das
bleiche Herz der Revolution“, 2004 erschienen, wird als Abrechnung mit den 68ern
gedeutet. Rabehl hat ihn noch nicht gelesen, aber davon gehört. Er will mal
reingucken. Es klingt nicht, als erwartete er Zumutungen, die er nicht schon
selbst gedacht oder ausgesprochen hätte.
Sophie Dannenberg,
Jahrgang 1971, wirkt sanft, sie redet leise und sagt mehrmals, dass sie
schüchtern sei. Deshalb habe sie ihren Roman auch unter einem Pseudonym
geschrieben. In Wahrheit heißt sie Annegret Kunkel. Sie sieht ein bisschen aus
wie ein Rauschgoldengel. Lang fällt das blonde Haar, ihre Züge sind weich,
puppenhaft.
Ihr Roman ist ziemlich
böse. Sie gibt sich überrascht, als dieses Wort fällt. Sie habe eher etwas
Satirisches schreiben wollen und sehr gelacht manchmal. Sie trägt einen
schwarzen, bodenlangen Rock und einen schwarzen Pulli, an dem eine Brosche
steckt – ein fauchender Tiger. Sophie Dannenberg entstammt nicht selbst einer
Familie von 68ern. Ihre Eltern seien eher bürgerlich gewesen, aber sie habe
unter den Eltern ihrer Freunde und unter den Lehrern typische Vertreter dieser
Generation beobachten können.
Sie war, wie viele,
fasziniert. Für die Jüngeren setzten die 68er zunächst Maßstäbe. Sie definierten,
was richtiges Verhalten ist, was die richtigen Gedanken sind. Man kam sich ihnen
gegenüber bald ungenügend vor, nicht politisch genug, nicht kämpferisch genug.
Man strengte sich an, ihren Maßstäben gerecht zu werden.
Dannenberg hatte eine,
wie sie heute sagt, „stalinistische“ Lehrerin. Ihr eiferte sie nach. „Mit 14
wollte ich unbedingt noch Kommunistin werden“, sagt sie. Es seien „romantische,
kindliche Ideen“ gewesen. Sie hat Russisch gelernt.
Auf einer Klassenfahrt
in die DDR hat sie das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald besucht. „Das
hat mich ziemlich mitgenommen“, sagt sie. Aber dann hat sie sich zu ihrer
Lehrerin umgedreht, und die guckte „so triumphierend, da war gar kein Mitgefühl
im Blick oder Entsetzen“.
Ihr kommen Zweifel an
dieser Lehrerin, die in einem KZ offenbar vor allem etwas sieht, das einen Recht
haben lässt, das Theorien bestätigt und Kämpfe rechtfertigt. Dannenberg nimmt
nun immer deutlicher wahr, dass diese Lehrerin „etwas unheimlich Verbissenes,
Verkrampftes“ habe. Sie löst sich, wendet sich ab.
Eine andere Beobachtung
kommt hinzu. Sie sieht eine Mutter, die sie für eine 68erin hält, mit ihrem Kind
auf der Straße. Das Kind schreit, die Mutter schreit zurück: „Hör auf, mich zu
bevormunden.“
Das wird ihr Thema, das
Thema ihres Buchs. Was hat „68“ aus den Familien gemacht?
Sie hat sich
Kinderbücher aus dieser Zeit angeguckt, hat Kinderlieder gehört und sich an die
Stücke des Berliner Kindertheaters „Grips“ erinnert. Sie hat festgestellt, dass
„Eltern immer wieder als negative Figuren dargestellt werden, als Autoritäten,
die man abservieren muss“. Die konkreten Auswirkungen davon seien „tragisch“.
Sie sagt: „Die Verbindung Eltern-Kind wird zerstört, unterbrochen.“ […]
Sophie Dannenberg ist
eine Frau, der Dinge nahe gehen. Sie nimmt sie mit einem sanften Gemüt auf, mit
viel Mitleid für Opfer, und dann, wenn sie das alles verarbeitet hat, wendet
sich ihr Gemüt ins Boshafte. Dann schreibt sie eine satirische, aber auch
bitterböse Abrechnung. Da ist sie gar nicht so weit von den 68ern entfernt, die
auch eine Menge Mitleid hatten, mit den Unterdrückten und Elenden der Welt, die
angeblichen Täter aber gnaden- und verständnislos bekämpften. So haben sie nun
die Kritikerin bekommen, die sie verdienen.
Im Arbeitszimmer von
Gerd Koenen in Frankfurt am Main liegt „Das bleiche Herz der Revolution“ auf
einem Stapel Bücher, an fünfter oder sechster Stelle von oben. Literarisch habe
es ganz gut angefangen, sagt er, dann werde es zur „reinen Karikatur“. Nach drei
Kapiteln habe er das Buch „entnervt“ aus der Hand gelegt. Die Darstellung von
„68“ sei „ein bisschen so, wie Klein-Marie sich das vorstellt“.
Koenen, Jahrgang 1944,
ist eingemauert von Büchern, jede Wand ist voll. Er trägt eine Strickjacke und
Sandalen. Auch sein Haar ist grau. Er hat selbst ein Buch über „68“ geschrieben,
„Das rote Jahrzehnt", in seinen Augen eine „melancholisch-ironische
Nachbetrachtung“. Andere haben es als Abrechnung gelesen.
Er war selbst mit dabei,
in der Stundentenbewegung, später in der Führung des Kommunistischen Bundes
Westdeutschland (KBW). Er hatte, wie seine Parteigenossen, viel Sympathie für
das Kambodscha Pol Pots, des neben Hitler und Stalin grausamsten
Menschenvernichters im vergangenen Jahrhundert. Er hielt ihn für einen
fortschrittlichen, guten Führer. Er sammelte Geld für ihn. Damit muss er jetzt
leben. „Wir taten das aus den scheinbar allerbesten Motiven heraus“, sagt er. „Der
Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“
Weil der KBW Ende der
siebziger Jahre fürchtete, verboten zu werden, wurde ein Leben im Untergrund
vorbereitet. Dieser Punkt sorgt bei Koenen heute für dunkelste Gedanken an
damals. „Auf welchen Trip wäre man noch gekommen“, fragt er sich, „es bleibt ein
Rest von Erschrecken.“
Er macht eine Pause,
sagt dann: „Man denkt daran, wozu man fähig gewesen wäre und verbal sowieso
schon war.“
Es geht um Gewalt gegen
einen Staat, dem man alles zutraute. „Man musste nicht in der RAF sein, um für
möglich zu halten, dass dieser Staat Vernichtungshaft will“, sagt Koenen. In den
Haftbedingungen für die Terroristen sahen viele 68er die deutlichste Nähe zu den
Nazis, zu deren Vernichtungslagern. War das nicht der Beweis, dass es eine
braune Kontinuität gab?
Sie hatten das von
Anfang an behauptet. Tatsächlich war Kurt Georg Kiesinger (CDU), der
Bundeskanzler der Großen Koalition (1966 bis 1969) Mitglied der NSDAP gewesen,
aber er hatte einen Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt (SPD) an der
Seite, der Deutschland 1933 verlassen und in Opposition zu den Nazis gestanden
hatte.
Der Terror der RAF
richtete sich dann gegen einen Staat, der seit 1969 von den Sozialdemokraten
Brandt und Helmut Schmidt geführt wurde. Es war eine Phase der Reformpolitik von
links, längst nicht mehr das verknöcherte Deutschland unter Konrad Adenauer.
Aber es gab den Drang, in fast jedem Politiker Spuren von Faschismus zu vermuten.
Das sollte den Kampf legitimieren.
Der KBW wurde nicht
verboten, Koenen rutschte nicht in den Untergrund. „Letztlich haben wir nicht
mehr gemacht als Papier bedruckt“, beruhigt er sich. Er hat sich vom Kommunismus
verabschiedet, als er im Sommer 1981 die protestierenden Arbeiter in Polen
besuchte, die den Aufstand gegen eine kommunistische Partei probten. Er fand,
dass sie Recht hatten.
Seine politische Bilanz
von „68“ sieht heute so aus: „Unsere Ziele stehen mit dem, was rausgekommen ist,
im Widerspruch.“ Sie wollten die Welt ziviler machen: „Aber was wir taten, hat
einen militaristischen, organisationsfanatischen Zug.“ Sie wollten die Welt
demokratischer machen: „Wir wurden selbst in einem doktrinären Sinne
kommunistisch.“
Er würde nicht einmal
sagen, dass „68“ Deutschland entscheidend verändert hat im Sinne eines Aufbruchs,
der Öffnung einer erstarrten Gesellschaft, wie heute gern behauptet wird.
„Deutschland stand
damals nicht am Scheideweg“, sagt er. „Deutsche Soldaten sollten nicht nach
Vietnam. Die Regierung Kiesinger war die erste Reformregierung. Es war schon
alles auf dem Weg. Wir waren nur die Wellenreiter dieser großen Umbruchbewegung.“
Seine persönliche
Bilanz ist auch nicht glänzend: „Wir sind aus allen Karrieren rausgeflogen,
haben uns selbst proletarisiert.“ Ende der siebziger Jahre sagte ihm jemand in
der Frankfurter Karl-Marx-Buchhandlung: „Lass uns bei den Grünen mitmachen, das
ist unsere Chance.“ Er winkte ab. Es war Joschka Fischer.
Koenen ging den „steinigen
Weg“ eines Publizisten. Aber er bereut nur eins, „dass ich nicht ein Kind habe“.
Er sagt das und räuspert sich. Die Weltrevolution ließ ihm keine Zeit für ein
Kind. Andere seiner Generation versuchten beides zu verknüpfen, was ihnen nun
den Spott und die Kritik von Sophie Dannenberg einträgt. Koenen gibt ihr Recht:
„Die Eltern waren hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt.“ Und: „Das Band
zwischen den Generationen hat sich auf problematische Weise gelockert.“
Er findet nun auch,
dass die Generation seiner Eltern, gegen die der Aufstand gerichtet war,
Nachsicht verdient hätte. „Sie waren mürrisch, aber das war nur die verdeckte
innere Unsicherheit nach der Kriegs- und Nazi-Zeit. Es waren keine starken
Eltern, und sie hatten ein Nachkriegsprojekt, das waren wir, ihre Kinder. Unser
Aufstand war auch eine Flucht aus der fürsorglichen Belagerung.“
So wird aus „68“ eine
große Familientragödie. Die Eltern, Täter und Mitläufer der Nazi-Zeit, wollten
an ihren Kindern ihre guten Seiten zeigen. Aber die Kinder wollten sie auf die
schlechten Seiten reduzieren, wollten eigentlich nur die Antwort auf eine Frage:
Was habt ihr gemacht von '33 bis '45? Es war eine richtige Frage, aber in ihrer
Dominanz war sie zerstörerisch.
Koenen schreibt im
Vorwort seines Buchs: „Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern – meinem
Vater, der starb, als unsere Entfremdung am größten war, an der er seinen und
ich meinen Anteil hatte."
[…]
(Kurbjuweit, 2005)
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